Kalle Blomquist
dem Fuße. Das war der Augenblick, auf den Anders gewartet hatte. Wie ein Blitz schoß er hervor, und gerade bevor Sixtus auf dem trocke-nen Land Fuß gefaßt hatte, tippte er ein kleines bißchen an das Brett. Mehr war nicht nötig.
»So ging es Pharao, als er durch das Rote Meer wollte!« schrie Eva-Lotte dem planschenden Sixtus aufmunternd zu.
Dann rannten die Weißen, so schnell ihre Füße sie tragen konnten, zur Bäckerei hinauf, während Sixtus und Benka unter lautem Rachegeschrei ans Land krochen. Anders, Kalle und Eva-Lotte nutzten die kostbaren Sekunden aus, um sich auf dem Boden zu verbarrikadieren. Die Tür zur Treppe wurde sorgfältig geschlossen und das Seil hochgezogen. Dann stellten sie sich vor die offene Bodenluke und warteten auf ihre Feinde. Feldge-schrei kündigte ihre Ankunft an.
»Bist du sehr naß geworden?« fragte Kalle teilnahmsvoll, als Sixtus auftauchte.
»Ungefähr so, wie du immer hinter den Ohren bist«, sagte Sixtus.
»Kommt ihr freiwillig raus oder sollen wir euch ausräu-chern?« schrie Jonte.
»Ach, ihr werdet wohl rauf klettern und uns holen können«, sagte Eva-Lotte. »Macht es euch was aus, wenn wir euch dabei etwas siedendes Pech hinter die Hemdenkragen gießen?«
Im Laufe der Jahre hatte es viele Kämpfe zwischen den Weißen und den Roten Rosen gegeben. Es herrschte aber nicht die geringste Feindschaft zwischen den Mitgliedern der beiden Banden. Im Gegenteil, sie waren die allerbesten Freunde, und ihre Kämpfe waren für sie alle nichts anderes als ein lustiges Spiel.
Es gab keine bestimmten Regeln, wie die Kriegführung ge-handhabt werden sollte. Man hatte nur ein Ziel: die gegnerische Seite soviel wie möglich zu ärgern, und dafür waren fast alle Mittel erlaubt, außer natürlich Eltern und andere außenstehen-de Personen hineinzuziehen. Sich des Hauptquartiers des Gegners zu bemächtigen, zu spionieren und zu überraschen, Gei-seln zu nehmen, gräßliche Drohungen auszustoßen und ehren-kränkende Briefe zu schreiben, die »heimlichen Papiere« des Gegners zu stehlen und selbst eine große Menge davon herzustellen, so daß es für den Gegner etwas zu klauen gab, kostbare Aktenstücke quer durch die Linien des Feindes zu schmuggeln –all das waren wichtige Bestandteile, die zum Krieg der Rosen gehörten.
Im Augenblick fühlten die Weißen sich grenzenlos überlegen.
»Rückt ein bißchen weiter«, sagte Anders höflich. »Ich will gerade mal spucken!«
Die Roten zogen sich knurrend hinter die Hausecke zurück und versuchten vergebens, die Tür zur Treppe zu öffnen.
Aber das Kriegsglück hatte den Chef der Weißen übermütig gemacht.
»Grüßt die Roten und sagt ihnen, daß ich fünf Minuten Urlaub für ein Naturbedürfnis genommen habe«, sagte er und rutschte am Seil hinunter. Er berechnete, daß er das kleine Haus mit dem Herzen in der Holztür erreichen würde, bevor die Roten entdeckten, daß er den Boden verlassen hatte. Seine Berechnung schlug nicht fehl. Er verschwand im Häuschen und riegel-te sich ordentlich ein. Aber er hatte nicht an den Rückzug gedacht. Hinter der Hausecke stand Sixtus, und sein Gesicht bekam beinahe einen verklärten Schimmer, als er dahinterkam, wo er seinen Feind hatte. Er brauchte ungefähr zwei Sekunden, um hinzurennen und den Haspen an der Außenseite der Tür vorzu-schieben, und das triumphierende Gelächter, das er danach an-hob, war das unheilverkündendste, das Eva-Lotte und Kalle je gehört hatten.
»Unser Chef muß aus seiner schrecklichen Gefangenschaft befreit werden«, sagte Eva-Lotte bestimmt.
Die Roten tanzten im Freudenrausch einen Kriegstanz.
»Die Weiße Rose hat sich ein neues Hauptquartier be-schafft«, grinste Sixtus. »Da werden die Rosen dann schöner duften als je.«
»Bleib hier und beschimpfe sie«, sagte Eva-Lotte zu Kalle.
»Dann will ich sehen, was ich machen kann.«
Es gab noch eine Treppe vom Boden, aber sie führte nicht ins Freie. Sie führte direkt in die Bäckerei hinunter. Hier hatte Eva-Lotte nun eine gute Möglichkeit, hinauszukommen, ohne daß die Gegner es merkten. Sie lief durch die Bäckerei, nahm sich im Vorbeigehen ein paar Kuchen und verschwand durch die Tür am anderen Ende des Gebäudes. Dann machte sie eine Umgehung, und es gelang ihr nach langen Umwegen, sich auf den Zaun hinter das Wirtschaftsgebäude hinauf zu praktizieren, ohne von den Roten beobachtet zu werden. Mit einem langen Stock bewaffnet, kletterte sie auf das Dach des Wirtschaftsgebäudes. Anders hörte,
Weitere Kostenlose Bücher