Kalle Blomquist
hinunter zur Villa des Postdirektors hatte. Er hatte das Auskundschaften übernommen, sowohl sein privates wie das der Weißen Rose.
»Ich habe eigentlich keine Zeit, Krieg zu führen«, hatte er zu Anders gesagt. »Ich bin beschäftigt.«
»Nanu«, sagte Anders. »Ist wieder ein Kriminaldrama im Gang wie gewöhnlich? Ist Friedrich mit dem Fuß wieder dabei, sich die Kollekte anzueignen?«
»Ach, rutsch mir den Buckel runter!« sagte Kalle. Er sah ein, daß es zwecklos war, Verständnis zu erwarten. Und er kletterte folgsam auf den Baum, wie es ihm befohlen worden war. Unbedingter Gehorsam gegen den Chef gehörte zu den Geboten der Weißen Rose.
Daß Kalle zum Kundschafter bestimmt worden war, hatte indessen den Vorteil, daß er? indem er Ausschau nach den Roten Rosen hielt, zugleich Onkel Einar überwachen konnte. Der saß im Augenblick auf der Veranda und half Tante Mia, Erdbeeren abzuzupfen. Das heißt, nachdem er zehn Stück geputzt hatte, steckte er sich eine Zigarette an, setzte sich auf das Geländer und baumelte mit den Beinen, neckte ein bißchen Eva-Lotte, wenn sie, auf dem Weg zum Hauptquartier der Weißen Rose, vorbei-lief, und sah im übrigen aus, als ob er sich langweile.
»Wirst du dessen nicht überdrüssig, so herumzusitzen?« hörte Kalle Tante Mia fragen. »Ich finde, du solltest einen Spaziergang in die Stadt machen oder mit dem Rad zum Baden fahren oder irgend etwas Derartiges. Im übrigen ist ja an den Abenden Tanz im Hotel – daß du da nicht hingehst!«
»Danke für deine Fürsorge, Miachen«, sagte Onkel Einar.
»Aber ich finde es hier im Garten so schön, daß ich nicht das geringste Bedürfnis nach einer Beschäftigung habe. Hier kann ich mich richtig erholen und meine Nerven ausruhen. Ich fühle mich ruhig und harmonisch, seitdem ich hier bin.«
»Ruhig und harmonisch – ja, ph!« dachte Kalle. »Er ist ungefähr so harmonisch wie eine Schlange im Ameisenhaufen. Er kann wohl deswegen nachts nicht schlafen und hat einen Revolver unter dem Kopfkissen, weil er so furchtbar ruhig und harmonisch ist.«
»Wie lange bin ich eigentlich schon hier?« fragte Onkel Einar.
»Die Tage vergehen so schnell, daß man ganz aus der Rechnung kommt.«
»Am Samstag werden es vierzehn Tage.«
»Du lieber Himmel, nicht länger? Mir kommt es vor, als ob ich schon einen Monat hier wäre. Jaja, ich muß wohl bald daran denken abzureisen.«
»Noch nicht, noch nicht«, wimmerte Kalle leise oben im Ahornbaum. »Erst
muß
ich herauskriegen, warum du hier her-umsitzt und dich wie ein Hase im Gebüsch verkriechst.«
Kalle war so gefesselt von dem Gespräch auf der Veranda, daß er ganz vergaß, daß er als Kundschafter für die Weiße Rose Dienst tat. Er wurde von einer flüsternden Beratung auf der Straße draußen in die Wirklichkeit zurückgerufen. Da standen Sixtus und Benka und Jonte und versuchten, durch den Zaun zu gucken. Sie sahen Kalle oben im Ahornbaum nicht.
»Eva-Lottes Mutter und irgend so ein Vogel sitzen auf der Veranda«, rapportierte Sixtus. »Wir können also nicht durch die große Gartentür gehen. Wir machen eine Umgehung über die Flußbrücke und überrumpeln sie von der Flußseite her. Sie sind sicher in ihrem Hauptquartier auf dem Boden.«
Die Roten verschwanden wieder. Kalle stieg eiligst vom Baum herunter und rannte zur Bäckerei, wo Anders und Eva-Lotte sich die Wartezeit damit vertrieben, an dem Seil hinun-terzurutschen, das noch seit der Zirkuszeit da hing.
»Die Roten kommen!« schrie Kalle. »Sie kommen in einer Sekunde über den Fluß!«
Dort, wo der Fluß durch den Bäckereigarten floß, war er nicht mehr als zwei Meter breit. Eva-Lotte hatte ein Brett da unten liegen, das man bei Bedarf als »Zugbrücke« benutzen konnte. Das war eine ganz unsichere Brückenverbindung, aber wenn man schnell und gleichmäßig lief, geschah es nur selten, daß man ins Wasser fiel. Und selbst wenn es passierte, beschränkte sich das Unglück meistens nur auf ein Paar nasse Hosen, da das Wasser hier nicht sehr tief war.
Die Weißen beeilten sich, bereitwillig die Zugbrücke auszu-legen, und dann krochen sie ruhig hinter das Erlengebüsch am Flußufer.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Mit wachsender Begeisterung beobachteten sie, wie die Roten auf der entgegengesetzten Seite auftauchten, vorsichtig nach ihren verborgenen Feinden spähend.
»Ha, die Zugbrücke ist heruntergelassen!« schrie Sixtus. »Zum Kampf! Der Sieg ist unser!«
Er stürzte auf den Steg, Benka folgte ihm auf
Weitere Kostenlose Bücher