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Kalle Blomquist

Kalle Blomquist

Titel: Kalle Blomquist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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der große Bruder Klaus oder wer er nun sonst war.
    »Guten Tag«, sagte Eva-Lotte.
    »Ich dachte tatsächlich, es wäre eine alte Bekannte, die ich vorhin am Fenster stehen sah«, meinte der große Bruder Klaus.
    »Nein, das war nur ich«, sagte Eva-Lotte.
    Er sah sie prüfend an. »Aber haben wir uns nicht schon einmal getroffen, du und ich?« fragte er.
    Eva-Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«
    »Unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen«, hatte sie einmal gesagt. Aber da wußte sie nicht, daß das Aussehen eines Menschen vollkommen verändert werden kann, wenn ein Bart abrasiert und langes, in die Stirn hängendes Haar zu einer kurzen, aufrecht stehenden Bürste geschnitten wird. Der Mann, dem sie einmal auf dem schmalen Pfad begegnet war und dessen Bild ihrer Netzhaut unauslöschlich eingeprägt war, hatte damals außerdem dunkelgrüne Gabardinehosen getragen, und es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, daß er irgendwie anders gekleidet sein konnte. Der große Klaus trug einen kleinkarierten grauen Anzug.
    Er sah sie mit unruhigen Augen an, und dann fragte er: »Wie kann so ein kleines Fräulein wohl heißen?«
    »Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte.
    Der große Klaus nickte. »Eva-Lotte Lisander«, sagte er nachdenklich.
    Eva-Lotte hatte keine Ahnung, wie gut es war, daß sie den großen Klaus nicht wiedererkannte. Auch ein Verbrecher scheut sich, einem Kind unnötig Böses zu tun. Aber dieser Mann gedachte sich um jeden Preis zu retten. Er wußte, jemand, der Eva-Lotte Lisander hieß, konnte alles für ihn zerstören, und er war bereit, alles zu tun, um das zu verhindern. Und jetzt stand sie hier vor ihm, diese Eva-Lotte Lisander, die er schon durch das Fenster erkannt zu haben glaubte, als er ihr helles Haar gesehen hatte, stand hier vor ihm und sagte ganz ruhig, daß sie ihn nie vorher getroffen hätte. Und er fühlte eine Erleichterung, daß er hätte schreien mögen. Er brauchte also diesen plappern-den Mund nicht zu schließen, diesen Mund, der ihm so viel Sorgen gemacht hatte. Er brauchte nicht mehr zu fürchten, daß diese Eva-Lotte Lisander eines Tages in der Nachbarstadt, wo er wohnte, auftauchte und ihn wiedererkannte und mit dem Finger auf ihn zeigte und sagte: »Da geht der Mörder!« Denn sie kannte ihn nicht. Sie war nicht länger mehr ein Zeuge gegen ihn.
    Er war so erleichtert, er war beinahe froh darüber, daß sie seinem Attentat mit der Schokolade entgangen war.
    Der große Klaus wollte gehen. Er wollte gehen und nie wieder an diesen verdammten Platz zurückkehren. Als er aber die Türklinke in der Hand hielt, erwachte sein Mißtrauen. Sie war doch wohl nicht etwa eine ausgekochte kleine Schauspielerin, die die Unschuldige markierte und nur so tat, als kenne sie ihn nicht mehr? Er warf ihr einen lauernden Blick zu. Aber sie stand da mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, und ihr Kinderblick war offen und zuverlässig. Da gab es keine Verstellung, das konnte er deutlich sehen. Trotzdem fragte er: »Was machst du hier so allein?«
    »Ich bin nicht allein«, sagte Eva-Lotte freundlich. »Anders und Kalle sind auch hier. Meine Freunde, verstehen Sie?«
    »Spielt ihr hier?« wollte der große Klaus wissen.
    »Nein«, sagte Eva-Lotte, »wir haben bloß ein Papier gesucht.«
    »Ein Papier?« fragte der große Klaus, und sein Blick wurde hart. »Ein Papier habt ihr gesucht?«
    »Ja, und
so
lange«, sagte Eva-Lotte, die fand, daß eine Stunde lang war, wenn es galt, die kindische Landkarte der Roten aufzuspüren. »Sie glauben gar nicht, wie wir gesucht haben! Aber wir haben es gefunden.«
    Er war verloren. Ein paar Kinder hatten ihn gefunden, den Schuldschein, den er selbst immer wieder gesucht hatte und den er heute zum allerletztenmal hatte suchen wollen. Er war verloren, und das jetzt, da er glaubte, in Sicherheit zu sein!
    Er zwang sich zur Ruhe. Noch wollte er nicht alle Hoffnung aufgeben. Er mußte nur dieses Papier haben –
mußte
es haben!
    »Wo sind Anders und Kalle denn jetzt?« fragte er so unbeteiligt wie möglich.
    »Die kommen gleich wieder«, antwortete Eva-Lotte. Sie sah aus dem Fenster. »Ja, da hinten kommen sie schon«, fuhr sie fort. Der große Klaus stellte sich hinter sie, um aus dem Fenster zu sehen. Mit der Hand stützte er sich auf das Fensterbrett, und als Eva-Lotte den Kopf ein wenig senkte, sah sie zufällig auf seine Hand.
    Und sie erkannte seine Hand wieder.
Diese Hand

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