Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
Vom Netzwerk:
sich!«
    Morgenrunde. Die Sonne strahlte durch die Lamellen. Karl sollte heute entlassen werden. Er bekam von uns eine Postkarte mit einem Kleeblatt und vielen guten Wünschen darauf. Die Krankenschwester, die mit uns in der Runde saß, trug eine Lederjacke mit Nieten, Jeans und schwarze Biker-Stiefel. Sie fragte Karl, was er aus den drei Monaten seines Aufenthalts mitnehmen würde. Karl dachte einen Moment nach und sagte dann: »Ich kann heute schon viel besser für mich sorgen!« Einige grinsten. »Für sich sorgen« ist ein geflügeltes Wort vom Personal.
    Die Krankenschwester hakte nach: »Und was genau verstehen Sie darunter?«
    Â»Ich nehme jetzt Antidepressiva«, sagte Karl. »Wenn ich mal was nicht schaffe, frage ich meine Frau oder meine Schwester, ob sie mir helfen. Einmal die Woche habe ich mich zum Autogenen Training angemeldet. Und einen Termin beim Sozialpsychiatrischen Dienst in unserem Stadtteil habe ich auch schon vereinbart.«
    Von der Krankenschwester kam prompt ein Lob: »Sehr gut, da haben Sie viel gelernt. Alles Gute für Sie!«
    Nach der Morgenrunde verabschiedete ich mich von Karl. Wir umarmten uns fest, tauschten E-Mail-Adressen aus. »Du wirst mir fehlen«, sagte ich. Nachdem Karl weg war, ging ich in mein Zimmer. Ich legte mich aufs Bett und dachte darüber nach, was er in der Morgenrunde geäußert hatte. Auch ich konnte inzwischen um Hilfe bitten. Auch nachdrücklich, wenn es sein musste. Konkret bedeutete das, dass ich Kontakt zu Therapeuten oder Pflegern suchen würde, sollte es mir schlecht gehen. Ich würde um Medikamente bitten oder um ein Gespräch oder um beides. Das konnte ich während meines ersten Aufenthalts in der Psychiatrie noch nicht. Es war für mich eine berauschende Erfahrung, dass ich dazu ermuntert wurde, um Unterstützung zu bitten. Endlich musste ich nicht mehr alles allein aushalten.
    Um elf Uhr fand die Visite statt, mit Dr. Steinhausen, außerdem nahm noch die »Bezugskrankenpflegerin« daran teil, also die Schwester, die für mich zuständig war. Zu dritt saßen wir im Gruppenraum auf den pinkfarbenen Stühlen, in einem kleinen Kreis. Der Oberarzt – Dr. Freud in Jeans – blickte auf seine Mappe, lehnte sich nach vorn und kam dann wie immer direkt zur Sache: »Frau Fuhljahn, wie ich höre, erscheinen Sie morgens nicht zum Frühstück.«
    Â»Ich habe panische Angst«, erklärte ich. »Wirklich. Ich bin dann so gelähmt, dass ich nicht aufstehen kann.«
    Dr. Steinhausen sah mich sehr bestimmt an und sagte: »Hier ist der richtige Ort, um gegen die Angst anzugehen. Das erwarte ich von Ihnen. Was können Sie tun, und wie können wir Ihnen helfen, dass Sie aufstehen? Was brauchen Sie?«
    Während ich das Gespräch mit dem Oberarzt im Kopf vor- und zurückspulte, ging ich nach draußen, um in Ruhe nachdenken zu können. Drinnen wird das Personal in sehr kurzer Zeit für die Patienten extrem wichtig. Im Positiven wie im Negativen: Viele Patienten schwärmen für ihren Arzt – oder verabscheuen ihn. Die Therapeuten, Schwestern und Pfleger erleben einen in abgrundtiefer Verzweiflung, wenn man sich nicht mehr verstellen und nicht mehr stark sein kann. Sie sehen einen mit fettigen Haaren, im Schlafanzug, unkontrolliert weinend oder in einem Wutanfall, den man zu Hause so nicht ausleben würde. Für viele Patienten ist es das erste Mal, dass ihnen jemand von A bis Z zuhört, sich für ihre Not interessiert und ihnen aufrichtig helfen will. Es ist für viele aber auch das erste Mal, dass sie mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert werden – wie zum Beispiel mit der Tatsache, dass sie mitverantwortlich sind, wenn ihnen gekündigt wird. Wer vorher das Bild hatte, der Arbeitgeber wäre an allem schuld, schließlich hat der einen ja rausgeschmissen, fühlt sich schnell auf den Schlips getreten, wenn jemand fragt: »Und was haben Sie dazu beigetragen, dass Sie Ihren Job verloren haben?« So entstehen nicht nur unter Patienten, sondern auch mit dem Personal relativ schnell enge Beziehungen. Meine Freunde draußen können oft nicht verstehen, dass mir das Mitarbeiterteam in der Klinik so wichtig ist. Es kommt immer wieder vor, dass mich ein einziger Satz eines Therapeuten für einen ganzen Tag aus der Bahn wirft: »Legen Sie doch nicht immer alles auf die Goldwaage!« Oder aber für einen ganzen Tag stabilisiert:

Weitere Kostenlose Bücher