Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft
Patientin der Station zu sein.
14 Wie es sich anfühlt, wenn man nur noch sterben will
M anchmal gehe ich über die StraÃe, inmitten von Passanten, und wünsche mir, dass mich ein Bus überfährt. Ich schwelge in Tagträumen, in denen mir ein Arzt sagt, dass ich Magenkrebs habe und sterben werde. Dann wäre endlich alles vorbei â und ich hätte keine Schuld. Perfekt. Wenn es nur nach mir und meinem Gefühl ginge, ich würde mich sofort umbringen. Mindestens sechs Monate im Jahr geht es mir so. Doch ich kann nicht anders, als mir auch Gedanken um meine Freunde zu machen. Und um deren Kinder. Meine Patentochter ist sechzehn. Darf ich ihr das antun? Manchmal hasse ich mich dafür, dass ich meinem Bedürfnis, mich töten zu wollen, nicht einfach nachgeben kann. Immer bin ich die GroÃe, Vernünftige, die Erwachsene. So schreibe ich im Kopf lange Abschiedsbriefe, in denen ich meinen Freunden erkläre, warum ich nicht mehr kann. Dass ich die aktuellen Schmerzen nicht mehr ertrage und das Leid in meinem Horrorleben sowieso nicht mehr. Dass ich es einfach nicht mehr aushalte.
Ja, die Zeiten, in denen es okay ist, werden mehr. 2006 war es nur ein Monat. 2007 auch. 2008 waren es zwei. 2009 schon drei. 2010 immerhin vier Monate. 2011 schon sechs. Doch obwohl es besser wird, so ändert es nichts an der Tatsache, dass es mir den Rest des Jahres dreckig geht. Meine Grundstimmung ist mies. Ich bin immer traurig. Alles strengt mich über die MaÃen an. Die Tage, an denen ich die Kraft für ganz normale Dinge habe, sind so selten. Ich kann dann nicht früh aufstehen, duschen, mich eincremen, Zähne putzen, mich schminken, Frühstück zubereiten, arbeiten, mir Mittagessen machen, wieder arbeiten, Brote schmieren, essen und abends zum Sport gehen. Meine Energie reicht immer nur für Versatzstücke davon.
Ich muss nicht auf die Malediven fliegen oder direkt an der AuÃenalster wohnen. Alles, wovon ich träume, ist ein stinknormales Leben mit alltäglichen Sorgen und einem ausgeglichenen Gemütszustand. Denn ich weiÃ, dass ich mit meinem Leid sehr anstrengend bin. Nicht umsonst verlassen mich immer wieder Freundinnen deswegen. Inzwischen ist der Mensch, dessentwegen ich die Schachteln mit den Tabletten, die ich schon in der Hand halte, schlieÃlich doch weglege, mein Therapeut, Dr. Weston. Denn ihm kann ich mich am meisten so zumuten, wie ich wirklich bin: wahnsinnig aggressiv, empfindlich wie eine Mimose, ständig jammernd und klagend, über Monate hoffnungslos und immer gierend nach Zuneigung und Aufmerksamkeit. Das hält nur ein Professioneller aus. In den Phasen, in denen ich sterben will, geht das alles in meinem Kopf umher. Ich wäge ab, zerreiÃe mich in dem Für und Wider. Und dann kommen wieder die Fantasien mit dem Bus. Ich wäre dann tot, müsste keine Verantwortung mehr für mich übernehmen und hätte endlich meine Ruhe. Denn ich will doch nur, dass es aufhört.
Solange das nicht passiert, überlege ich ganze Tage, wie ich mich am besten umbringen könnte, verbringe Nächte im Internet. Foren gibt es genug, doch keine klaren Angaben. Ich spiele im Kopf eine Option nach der anderen durch. Wie jemand, der eine Diät macht und immer nur ans Essen oder Nichtessen denkt. Die Pulsadern aufschneiden? Eine Möglichkeit, aber eine Riesensauerei. Zu heftig für den, der mich findet. Erhängte sehen auch schrecklich aus. Wenn ich nur ein Auto hätte, vom Kohlenmonoxid bekommt man eine rosige Gesichtsfarbe. Eins mieten? Aber wo dann hinfahren, ich habe ja auch keine Garage. Und was für einen Schlauch bräuchte ich? Also Medikamente. In die Schweiz zu fahren, kann ich mir leider nicht leisten. Also muss ich anders herausfinden, wie viel Tabletten ich einnehmen muss. Antidepressiva sind in der Ãberdosis meist nicht tödlich. Mittlerweile weià ich ziemlich genau, was ich nehmen müsste. Doch es bleibt ein Restrisiko. Wie viel ist genug? Wie viel ist todsicher? Was ist, wenn mich doch jemand findet und ich im Krankenhaus ein Gegengift bekomme? Wie lange muss ich also irgendwo liegen, damit ich nicht zurückgeholt werden kann? In der Woche geht es nicht, da merken es meine Freunde zu schnell. Also Samstag oder Sonntag. In einem Hotelzimmer? Beachten die Zimmermädchen auch ganz sicher das »Bitte-nicht-stören«-Schild? Soll ich vorher meine gesamte Wohnungseinrichtung verkaufen, damit niemand sich
Weitere Kostenlose Bücher