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Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft

Titel: Kalt erwischt - wie ich mit Depressionen lebe und was mir hilft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Fuhljahn
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die Eltern von Freunden und denke: Bitte, nehmt mich! Und fühle mich dann wie ein Heimkind, das hofft, jenes Ehepaar, das sich gerade im Kinderheim umschaut, würde sich unter all den vielen Kindern für es entscheiden. Doch wer würde mich nehmen? Wer würde mich wollen? Auch dafür ist es zu spät.
    Wer bringt sich um und warum?
    Laut Angaben des Statistischen Bundesamts nahmen sich 2010 in Deutschland 10 021 Menschen das Leben, davon 7465 Männer und 2556 Frauen. Diese Zahlen entsprechen den Einwohnern einer Kleinstadt. (An Verkehrsunfällen starben im selben Jahr weniger Menschen, insgesamt 3812 Personen, noch viel weniger an Mord und Totschlag, nämlich 690.) 36 Zu den erfassten Suiziden kommt noch eine Dunkelziffer von rund 25 Prozent. Die mit großem Abstand häufigste Methode, sich selbst zu töten, ist das Erhängen beziehungsweise Ersticken. An zweiter Stelle folgen Vergiftungen (Medikamente, Drogen), danach kommt ein Sturz in die Tiefe.
    Selbstmorde und Selbstmordversuche sind seit Jahrzehnten ein Tabu. Allein die Vorstellung, sich selbst zu töten, ist für die meisten Menschen furchtbar und unheimlich. Dazu kommen enorme Scham- und Schuldgefühle bei denen, die es versucht haben. Kein Wunder: Suizide waren gesellschaftlich lange ein Verbrechen und religiös geächtet.
    Von Vorurteilen belastet sind vor allem Suizidversuche. Immer noch sagen viele: »Das war doch nur ein Hilfeschrei. Die Person meint das gar nicht ernst.« Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Je häufiger jemand versucht, sich umzubringen, desto wahrscheinlicher ist ein späterer Selbstmord. Manche wollen einfach nicht mehr denken und fühlen, sich nicht mehr quälen müssen, wollen eine Pause haben von ihrem Leben. Andere finden sich selbst unerträglich. Wurde der Suizidversuch durch den Verlust eines Menschen (Scheidung, Trennung) ausgelöst, wendet der Verlassene nicht selten seine Aggressionen gegen den, der weggegangen ist, unbewusst gegen sich selbst. Aus psychologischer Sicht ist das vollkommen logisch: Durch den Abbruch einer Beziehung ist der Patient in seiner Seele so gekränkt (narzisstische Krise) und verletzt, dass er eine mörderische Wut entwickelt. Da die innere Abhängigkeit von dem, der gegangen ist, aber extrem groß ist, richtet er seine negativen Gefühle lieber gegen sich: Weil er Angst hat, sein Zorn könnte den anderen zerstören, umbringen. Trennungsschmerzen sind bei vielen so groß, dass sie stärker sind als der natürliche Überlebenswille.
    Alle, die mit ihrem Leben hadern, haben gemein, dass sie den momentanen oder schon länger andauernden Schmerz nicht mehr aushalten. Sie sehen keinen anderen Ausweg mehr, als zu sterben – und damit gleichzeitig auf ihr Leid aufmerksam zu machen. Sie wünschen sich, dass sich die Situation verändert, dafür nehmen sie den Tod in Kauf. Jeder Suizid ist deshalb eine verzweifelte Tat, damit sich etwas ändert. Es ist der Aufschrei: »Ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus.«
    Unabhängig von den Gründen: Jeder, der versucht, sich zu töten, ist ein Hochrisikopatient mit einer hohen Rückfallquote. Trotz einer Behandlung im Krankenhaus unternimmt fast jeder Dritte (rund 35 Prozent) meist schon wenige Monate nach dem ersten Versuch einen weiteren. Jeder Zehnte davon stirbt letztlich. 37 Es sind überwiegend Männer, die den Freitod wählen, dreimal so viel wie Frauen. 38 Vollendete Suizide sind am häufigsten bei Männern zwischen sechzig und fünfundachtzig Jahren. Die Gründe liegen darin, dass Männer, wie gesagt, ihre (scheinbar) schwachen Seiten schwerer akzeptieren können. Sie setzen sich kaum mit ihren Gefühlen auseinander und holen sich nur selten Hilfe. Der Todeswunsch ist deshalb oft ihr einziger Appell. Das gilt besonders für Suizide in mittleren Jahren. Frauen zwischen fünfundzwanzig und vierzig sind vor einem Selbstmord auch deshalb besser geschützt, weil sie vielfach für ihre Kinder Verantwortung tragen wollen – das ist ein wichtiger Schutzmechanismus. In jungen Jahren, im Alter zwischen fünfzehn und vierundzwanzig, sieht es allerdings anders aus, da ist bei jungen Frauen die Zahl der Suizidversuche größer als bei gleichaltrigen Männern. 39 Und nahezu jeder zweite Suizidversuch einer Frau wird heute von einer Frau im Alter über sechzig Jahre begangen. 40
    Fast alle psychischen Erkrankungen,

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