Kalt kommt der Tod (German Edition)
gut verstehen?«
»Da wird man neugierig.«
»Wird man.«
Er schloss die Augen und legte ein Dreisekundennickerchen ein, dann: »Also gut, wo soll ich anfangen?«, fragte er, die Stirn in verdrießliche Falten gelegt, als wüsste er, dass üble Dinge hochkommen könnten und dass er auf der Hut sein musste.
»Am besten an der Startlinie, wie es sich gehört«, antwortete Jenna.
Also erzählte Packer ihr seine Geschichte.
»Es gab drei Gerüche auf dem Boot«, begann er. »Den von ungewaschenen Menschen, den des Meeres und den der Angst.«
15
Das Boot hieß Hai long .
In qualvoller Enge kauerten vierundzwanzig Menschen auf dem morschen Kahn, die Kinder und Frauen geschützt von einer zerfetzten Plane, während die Männer mit Plastikbechern und bloßen Händen eindringendes Wasser über die Reling zurück ins Meer schaufelten.
Drei Uhr morgens in einer Juniwoche 1979. Seit fünf Stunden schlingerte die Hai long durch das südchinesische Meer, weg von Vietnam. Monsunwinde peitschten hohe Wellen gegen die Planken.
Eines der insgesamt sieben Kinder an Bord war Phong, acht Jahre alt, sein Cousin Duc und dessen kleine Schwester Duyen begleiteten ihn.
Eine Woche zuvor hatte sie der große Duc auf abseitigen Wegen von Ho-Chi-Minh-City durch den Dschungel in die große Stadt Can Tho am Mekong geführt, jeden Schritt in der Angst, von der Polizei entdeckt oder von regimetreuen Kommunisten verraten zu werden.
Sie schliefen unter Bäumen, sie schliefen in schmutzigen Gräben neben der Straße, sie schliefen auf dem Beton der Bürgersteige und in dreckigen Hütten voller Spinnen und Käfer.
In Can Tho wartete das Boot auf sie. Unter großen Mühen hatte die Familie zweihundertfünfzig Dollar und zwei Goldbarren für jeden von ihnen aufgebracht, ein Vermögen in jener Zeit. Hauptsache raus aus Vietnam, das nicht mehr ihr Land war. Nicht das Land der Eltern, nicht das Land der Kinder.
Seit dem Sieg des Nordens über den Süden und der überstürzten Flucht der Amerikaner regierten die Kommunisten. Die Furcht vor ihnen war größer als die Angst, auf dem Meer zu sterben. Denn die Gewinner des Krieges, die den Süden erobert und die Amerikaner schmachvoll aus dem Land vertrieben hatten, begannen Rache zu üben an ihren Landsleuten, die westliche Demokratie, Jimi Hendrix und Coca-Cola probiert hatten.
Ins Visier der siegreichen Vietcong geriet auch Phongs Onkel Kiem Tan. Bei ihm hatten Phong und seine Mutter Unterschlupf gefunden, seit sein Vater, ein GI aus Detroit namens James Packer, bei einem Feuergefecht in Da Nang tödlich verwundet worden war. Onkel Kiem Tan bot ihnen Schutz und ein würdiges Leben.
Mit seinem vor allem bei Ausländern beliebten Restaurant »Quan An« in einer dunklen Gasse nahe dem Quan-Thanh-Tempel, das aus nur sieben Tischen drinnen und zwei Tischen auf dem Bürgersteig bestand, hatte er es zu einigem Wohlstand gebracht, als noch die Amis in Saigon das Sagen hatten. Zu seinen Gästen zählten hochrangige US-Offiziere, ein südvietnamesischer General mit seiner Entourage und eine Handvoll Kriegsreporter aus England, Deutschland und Frankreich. Sie kamen hauptsächlich wegen seiner köstlichen Pho Bo, einer traditionellen Nudelsuppe, die er nach dem Rezept seiner Großmutter zubereitete, mit viel Ingwer und Erdnussöl, das war sein Geheimnis. Er war fleißig und sparsam, und bald eröffnete die Familie ein größeres Restaurant im Regierungsviertel.
Als der Krieg verloren war, rechnete er jeden Tag damit, dass man ihn und seine Familie verhaften würde. Vier aufreibende Jahre lang dachte er das, aber nichts geschah, sie ließen ihn in Ruhe. Die Angst wich der Zuversicht, unter dem Radar der neuen Machthaber das gewohnte Leben fortsetzen zu können.
Als niemand mehr damit rechnete, kamen eines Nachts Soldaten und traten die Haustür ein, holten Onkel Kiem Tan ab und verschleppten ihn und drei weitere Männer aus der Nachbarschaft in eins der gefürchteten Umerziehungslager in den Bergen bei Hanoi, mehr als tausendfünfhundert Kilometer nördlich von Saigon. Um brauchbare Kommunisten aus ihnen zu machen.
Phong sah seinen Onkel nie wieder.
Das Lokal wurde von den Behörden geschlossen. Phong und seine Mutter zogen zu seiner Tante, deren Familie Reis auf einem winzigen Feld anbaute, wie es die Vietcong angeordnet hatten. Hier standen andere Mahlzeiten auf der Speisekarte als im Restaurant in Saigon. An gebratene Ratte mit Zitronengras und Salz konnte Packer sich erinnern und an Jasminreis mit
Weitere Kostenlose Bücher