Kalt kommt der Tod (German Edition)
nicht der Sysselmann mit seinen Leuten bereits unterwegs zum Fundort der Leiche von Sylvia Brustedt sein?
Packer hob Jenna hoch und stemmte sich gegen den Wind. Den erneut einsetzenden Schwindel bekämpfte er, indem er sich ganz und gar auf die Mitte seiner Stirn konzentrierte, das dritte Auge. Sein Lehrer war bei ihm, Chim. Auf Chim war Verlass, Gott schütze ihn.
Als er den Kamm überquert hatte, ließ der Wind endlich nach. Er suchte eine Stelle, die ihm für sein Vorhaben geeignet erschien, eine Mulde, groß genug für sie beide. Dahinein legte er Jenna und begann, mit seinen Händen einen Schneewall rundherum zu errichten. Nach Süden hin ließ er einen Spalt offen, durch den er später hineinkriechen konnte. Als der Wall kniehoch war, beendete er seine Arbeit. Ein letztes Mal erklomm er den Kamm, setzte seinen Helm ab, zog beide Stiefel aus und schleuderte sie in drei unterschiedliche Richtungen hinunter in die Senke, zuversichtlich, dass der Suchtrupp seine Hinweise bemerken und sie finden werde. Mehr konnte er nicht tun: drei weitere Spuren in der Unendlichkeit, die ihnen vielleicht die Rettung bescherten.
Er kroch zu Jenna in die Kuhle, schob seine Füße mit den dickwolligen Strümpfen unter den umgeklappten Gummizug am Ende ihrer Hosenbeine, legte seine Arme um ihren Oberkörper und presste sie an sich. Ein Albtraum für einen klaustrophobischen Menschen. Der Packer war. Indem sie auf diese Weise einander wärmten, würden sie der Kälte eine Weile trotzen.
Jetzt, dachte er, beginnt die große Zeit des Freundes aller Hoffenden: das Warten.
Wenn jemand sich durch Erfahrung und Umstände in seinem Leben darauf verstand, zu warten, dann war das Packer.
Allzu lange durfte es diesmal jedoch nicht dauern.
53
»Kann ich Ihnen helfen?«
Frida Mörk sah wie Ende dreißig aus, doch die Schicht dick aufgetragenen Make-ups machte eine verlässliche Altersangabe unmöglich.
»Es ist keine Besuchszeit. Die Patienten nehmen gerade ihr Frühstück ein«, sagte sie. »Kommen Sie später wieder.«
Ihr Gesicht war müde, mit hohen, straffen Wangenknochen, ihre grünen Augen funkelten Big Kokina missmutig an. Seit Stunden war sie auf den Beinen und hatte mit ihren Kolleginnen eine Reihe von Patienten zu versorgen: einen Grubenarbeiter mit einem Splitterbruch des rechten Unterschenkels, eine Wöchnerin mit Zwillingen, einen übermütigen Touristen, der mit seinem Skidoo schwer gestürzt war, zwei alte Frauen mit akuten Herz-Kreislauf-Problemen, einen Krebspatienten, der mit Morphium sediert werden musste, aber Spitzbergen um keinen Preis der Welt lebend verlassen wollte, und zwei Männer mit Lungenentzündung. Überdies hatte der Chefarzt für den späten Vormittag eine Mandel-OP angesetzt.
Und dann war da noch die tote Sylvia Brustedt, die in der Kühlkammer im Keller darauf wartete, zur Leichenschau nach Tromsö ausgeflogen zu werden. Dr. Dybrig war bei ihr und bereitete sie für den Transport vor.
»Das ist ein Irrtum«, sagte Big Kokina, »wir wollen niemanden besuchen. Allerdings würden wir uns gern mit einer Schwester unterhalten. Sie heißt Frida Mörk. Hat sie heute Dienst?«
»Worum geht es? Ich bin die, die Sie suchen.«
Sie verschränkte ihre fleischigen Arme vor der Brust.
»Man hat uns …«, sagte Kokina, weiter kam er nicht, denn Vollmer fiel ihm ins Wort.
»Man hat uns erzählt, dass es auf Spitzbergen einen exklusiven Damenclub geben soll, dessen Dienste wir vor unserer Abreise in Anspruch nehmen möchten. Aus zuverlässiger Quelle haben wir erfahren, dass Frau Mörk mit diesem Club in günstiger Verbindung steht. Für unser Anliegen ist es zweifellos noch etwas früh am Tag, aber wir möchten sichergehen, für heute Abend das richtige Arrangement zu treffen, da wir nur noch die kommende Nacht auf der Insel sind.«
Vollmer zückte sein Portemonnaie und sagte: »Ohne die Vorzüge des Bungee-Clubs genossen zu haben, würden wir Longyearbyen nur ungern verlassen. Um die Ernsthaftigkeit unserer Absicht zu unterstreichen, wäre es mir ein Vergnügen, die Getränke im Voraus zu bezahlen.«
Vollmer bot ihr zehn Fünfzig-Euro-Scheine an.
»Für die Spesen«, sagte er. »Den Preis für die Mädchen bestimmen Sie, es sei denn, man hat uns zum Narren gehalten und dieser Bungee-Club existiert überhaupt nicht.«
Frida Mörk schaute sich um, aber sie waren allein auf dem langen, dunklen Flur. Aus einem der Zimmer drangen leise Stimmen, irgendwo spielte ein Radio.
Die Krankenschwester musterte die
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