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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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stieg aus seinen Jeans, ohne etwas zu erwidern.
    » Du musst mir versprechen, dass du dich nicht von hier nach dort faltest, also nirgendwohin verschwindest, bevor du mit mir gesprochen hast. «
    Shep streifte die Unterhose ab. » Neun Minuten. «
    » Kannst du mir das versprechen, Shep? «
    » Neun Minuten «, wiederholte Shep und schob den Duschvorhang beiseite.
    » Ich meine es ernst, Kleiner. Kein Falten mehr, bis wir besser verstanden haben, was mit uns geschieht, mit uns allen. «
    Shep drehte die Dusche auf, hielt vorsichtig die Hand ins herabrauschende Wasser, drehte am Regler und prüfte erneut die Temperatur.
    Oft nahmen die Leute fälschlich an, Shepherd sei ernsthaft behindert und brauche wesentlich mehr Hilfe dabei, für sich zu sorgen, als es tatsächlich der Fall war. Er konnte sich allein waschen, anziehen und viele einfache Aufgaben des Alltags bewältigen, vom Kochen einmal abgesehen. Es war also nicht ratsam, Shep zu bitten, ein flambiertes Dessert zu zaubern oder auch nur einen Toast zu rösten. Die Schlüssel eines Porsche s h ätte man ihm auch nicht überlassen. Aber er war intelligent und vielleicht sogar cleverer als Dylan.
    Leider war seine Intelligenz von ihren Anwendungsmöglichkeiten isoliert. Irgendwie war er falsch verkabelt auf die Welt gekommen. Er war wie ein Mercedes-Roadster mit einem starken Motor, der nicht mit der Antriebswelle verbunden worden war. Selbst wenn man so ein Ding den ganzen Tag auf vollen Touren laufen ließ, klang es zwar sehr beeindruckend, aber man kam damit trotzdem nicht aus der Garage.
    » Neun Minuten «, sagte Shep.
    Dylan reichte ihm seinen Timer, einen mechanischen Kurzzeitwecker, wie man ihn normalerweise in der Küche verwendete. Auf der runden weißen Wählscheibe waren sechzig schwarze Striche mit einer Ziffer bei jedem fünften Strich.
    Shep hielt sich den Wecker vors Gesicht und studierte ihn, als hätte er ihn nie zuvor gesehen. Dann stellte er den Timer sorgfältig auf neun Minuten und griff nach einem Stück Neutrogena, der einzigen Seife, die er beim Duschen benutzte. Während er in die Wanne trat, hielt er die Wählscheibe des Timers fest, damit sie sich nicht in Bewegung setzte.
    Um einen Anfall von Klaustrophobie zu vermeiden, ließ Shep beim Duschen immer den Vorhang offen.
    Sobald er unter der Brause stand, stellte er den Timer auf den Rand der Wanne und ließ die Wählscheibe los. Trotz des Wasserrauschens war das Ticken hörbar.
    Der Timer wurde immer nass. Nach ein paar Monaten war er so verrostet, dass er nicht mehr funktionierte. Dylan kaufte die Dinger im Dutzend.
    Sofort begann Shep, sich mit dem Seifenstück den linken Arm einzuschäumen. Ohne noch einmal einen Blick auf den Timer zu werfen, würde er jedem Körperteil genau die gewünschte Zeit widmen. Zwei oder drei Sekunden, bevor die Glocke ertönte, nahm er das vorweg, indem er zufriede n » Ding! « rief.
    Vielleicht verfolgte er die vergehende Zeit, indem er das Ticken des Weckers zählte – ein tick! pro Sekunde. Es war aber auch möglich, dass nach so vielen Jahren exakt getimten Duschens eine zuverlässige innere Uhr in Shep entstanden war.
    Dylan wiederum war sich schon seit zehn Jahren ständig der Tatsache bewusst, dass seine eigene innere Uhr unerbittlich sein Leben abzählte, aber er hatte sich bisher geweigert, zu viel über den Lauf der Zeit nachzudenken, also darüber, wo er in neun Minuten sein würde oder in sechs Monaten, in ein oder in zwei Jahren. Natürlich würde er seine Bilder malen, er würde zu Kunstfestivals reisen und seine Runde bei den Galerien im Westen des Landes machen. Und sich um Shep kümmern.
    Seit neuestem tickte sein inneres Uhrwerk zwar nicht schneller, aber aufdringlicher, sodass er nicht umhinkam, über die urplötzliche Ungewissheit seiner Zukunft nachzudenken. Dylan wusste nicht mehr, wo und in welcher Lage er am morgigen Tag oder am heutigen Abend sein würde, geschweige denn, was ihn in zwölf Monaten erwartete. Einem Menschen, der zehn Jahre lang ein außerordentlich berechenbares Leben geführt hatte, hätten diese neuen Umstände Angst einflößen sollen. Das taten sie auch, und zwar gewaltig, aber sie waren auch unleugbar aufregend, ja fast beglückend.
    Dylan war überrascht, dass die Aussicht auf Veränderungen ihm so verlockend vorkam. Lange hatte er sich für eine beständige Persönlichkeit gehalten, die Respekt vor traditionellen Werten hatte und alte Dinge liebte und für die der Reiz des Neuen um der Neuartigkeit willen

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