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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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während der ältere Shep ihn beklommen beobachtete.
    Auf dem Schlachtfeld von Geist und Herz kämpfte eine gebieterische Neugier mit Dylans Furcht. Wäre es nicht mit so viel Grauen verbunden gewesen, diese Neugier zu befriedigen, so hätte sie womöglich gesiegt; und auch wenn er in der Lage gewesen wäre, den Ausgang dieser lange vergangenen Nacht zu beeinflussen, hätte er die lähmende Vorahnung einer Katastrophe sofort überwinden können. Doch wenn er keinen Einfluss nehmen konnte – und das konnte er nicht –, dann wollte er kein nutzloser Zeuge von etwas sein, was er auch vor zehn Jahren nicht gesehen hatte.
    Die Stimmen im Wohnzimmer wurden lauter und klangen ärgerlicher.
    » Kleiner «, sagte Dylan zum älteren Shepherd, » bring uns hier weg! Falte uns nach Hause, aber in unsere eigene Zeit. Verstehst du mich, Shep? Falte uns raus aus der Vergangenheit, und zwar auf der Stelle! «
    Der jüngere Shep war taub gegen Dylan, Jilly und sein älteres Selbst. Obwohl der ältere Shep aber jedes Wort hören musste, das sein Bruder sagte, reagierte er so, als gehörte er ebenfalls zu dieser früheren Zeit und wäre stocktaub gegen die Stimmen derer, die nicht dazugehörten. Nach der Aufmerksamkeit zu urteilen, mit der er sein jüngeres Selbst beobachtete, wollte er sich vorläufig noch nirgendwohin falten, und man konnte ihn in diesem Zustand wohl kaum zwingen, seine magische Fähigkeit einzusetzen.
    Als die Auseinandersetzung im Wohnzimmer eskalierte, sanken die flinken Hände des zehnjährigen Shep auf den Tisch. Mit beiden hielt er ein noch nicht eingesetztes Puzzleteil. Er blickte zur offenen Tür.
    » Oh «, stöhnte Dylan, weil ihm ein schrecklicher Gedanke kam. » Oh, Shepherd, nein, nein! «
    » Was ist? «, fragte Jilly. » Was ist denn? «
    Der jüngere Shep legte die Puzzleteile auf den Tisch und stand auf.
    » Der arme Kerl «, sagte Dylan niedergeschmettert. » Er hat ’ s gesehen. Bisher wussten wir nicht, was er alles gesehen haben muss. «
    » Was hat er denn gesehen? «
    Hier, am Abend des 12. Februar 1992, ging der zehnjährige Shepherd O ’ Conner um den Esstisch herum und schlurfte auf die Tür des Wohnzimmers zu.
    Der zwanzigjährige Shepherd trat vor und streckte die Hände aus, um sein jüngeres Selbst aufzuhalten. Die Hände glitten durch den Shepherd aus einem fernen Februar wie durch einen Geist, ohne auch nur die geringste Wirkung zu zeitigen.
    Der ältere Shep starrte auf seine Hände. » Shep ist tapfer «, sagte er mit vor Angst zitternder Stimme. » Shep ist tapfer. «
    So, wie sich diese Worte anhörten, waren sie kein bewundernder Kommentar zum Verhalten seines jüngeren Selbst; offenbar wappnete Shepherd sich für das wohl bekannte Grauen, das ihn nun erwartete.
    » Bring uns hier weg «, drängte Dylan.
    Shepherd sah ihm in die Augen, und obwohl Dylan sein Bruder war und kein Fremder, fiel ihm eine derart große Nähe immer sehr schwer. Unter den gegebenen Umständen musste sie fast unerträglich sein. In seinem Blick lag eine furchtbare Verletzlichkeit, und Dylan sah, wie sehr ihm der schützende Panzer fehlte, den die meisten Menschen besaßen, ein Panzer aus Selbstwertgefühl und dem Instinkt, das eigene Gemüt vor Erschütterungen zu bewahren.
    » Komm «, sagte Shep. » Komm und sieh es dir an. «
    » Nein. «
    » Komm. Du musst es dir ansehen. «
    Sheps jüngeres Selbst trat aus dem Esszimmer ins Wohnzimmer.
    Der ältere Shepherd wandte den Blick von Dylan ab. » Shep ist tapfer, ganz tapfer «, sagte er und folgte sich selbst wie ein erwachsenes Kind, das einem Kind folgte. Während er vom Perserteppich auf das Parkett aus hellem Walnussholz trat, bewegten sich die schwarzen Lachen unter den Sohlen mit.
    Dylan und dann auch Jilly folgten ihm ins Wohnzimmer, wie es am 12. Februar 1992 ausgesehen hatte.
    Der jüngere Shepherd blieb zwei Schritte jenseits der Schwelle stehen, sein älteres Selbst hingegen ging um ihn herum und drang tiefer in die folgenschwere Szene vor.
    Der Anblick seiner Mutter Blair, die damals noch nicht tot gewesen war und daher wieder lebendig zu sein schien, erschütterte Dylan noch mehr, als er erwartet hatte. Wie Stacheldraht schloss sich der Gram um sein Herz, das anschwoll und sich in die scharfen Spitzen bohrte.
    Blair O ’ Conner war vierundvierzig gewesen, noch so jung.
    In Dylans Erinnerung war sie sanft, freundlich und geduldig; ihre Herzensgüte war genauso vollkommen wie ihr schönes Gesicht.
    In dieser Nacht zeigte sie jedoch ihre

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