Kalt
Kopf aber hatte er gehoben, und er blickte auf die Esszimmertür statt auf den Boden vor seinen Füßen. Dann trottete er vorwärts, als müsste er sich über eine innere Stimme hinwegsetzen, die ihm riet, sich vor jeder Herausforderung zu drücken.
Sofort trat Dylan an die Seite seines Bruders und legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten, aber Shep schüt telte ihn ab und ging langsam, aber entschlossen auf die Tür zu.
Jilly sah Dylan fragend an. In ihren dunklen Augen spiegelte sich das Licht der Uhr.
War Shep in störrischer Stimmung, konnte er es mit jedem Maultier aufnehmen. In seinem momentanen Verhalten erkannte Dylan einen seltenen, aber doch vertrauten Eigensinn, mit dem man nicht leicht und schon gar nicht lautlos fertig wurde, wie er aus Erfahrung wusste. Shep würde jetzt tun, was er tun wollte, sodass Dylan keine Wahl blieb, als ihm vorsichtig zu folgen.
Dylan ließ den Blick durch die dunkle Küche schweifen, fand aber nichts, was sich als Waffe eignete.
Auf der Schwelle zögerte Shepherd im ockerfarbenen Licht noch einmal, aber nur ganz kurz, dann trat er ins Nebenzimmer und wandte sich nach links, wo der Esstisch stand.
Als Dylan und Jilly hinter Shep das Esszimmer betraten, sahen sie einen Jungen am Tisch sitzen. Er war etwa zehn Jahre alt.
Der Junge hob nicht den Kopf, um die Eindringlinge anzuschauen, sondern beschäftigte sich weiter mit dem großen Weidenkorb voll süßer Welpen, der vor ihm lag. Der Korb war fast fertig, doch vielen der kleinen Fellknäuel fehlten noch
Teile von Kopf und Körper. Die Hände des Jungen flogen von der Schachtel loser Puzzleteile zu den Leerstellen des Bildes, die auf ihre Vollendung warteten.
Womöglich hatte Jilly den jungen Puzzler nicht erkannt, aber Dylan kannte ihn gut. Der Junge war Shepherd O ’ Conner.
33
Dylan konnte sich an dieses Puzzle erinnern, weil es eine so besondere Bedeutung hatte, dass es ihm gelungen wäre, es ziemlich exakt aus der Erinnerung nachzumalen. Nun sah er auch die Quelle des ockerfarbenen Lichts, eine Apothekerlampe, die normalerweise auf einem Schreibtisch im Arbeitszimmer stand. Sie hatte einen dunkelgelben Glasschirm.
An Tagen, an denen Shepherds Autismus sich in Form einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber hellem Licht ausdrückte, kam es nicht infrage, einfach den Kronleuchter herunterdrehen, um zu puzzeln. Das leise Summen, das der vom Dimmer gehemmte elektrische Strom hervorrief, mochte für alle anderen Menschen fast unhörbar sein, in seinem Schädel kreischte es wie eine mit Hochgeschwindigkeit laufende Knochensäge. In solchen Fällen holte er sich deshalb die Tischlampe mit dem dunkel getönten Schirm, die man mit einer besonders schwachen Birne ausgestattet hatte.
Schon seit zehn Jahren hatte Shepherd im Esszimmer kein Puzzle mehr gemacht. Inzwischen war er zum Küchentisch umgezogen, und der Korb voller Welpen war das letzte Werk, das er in diesem Zimmer vollendet hatte.
» Shep ist tapfer «, sagte der stehende Shepherd laut, aber seine jüngere Version am Tisch hob daraufhin immer noch nicht den Kopf.
Nichts, was bislang geschehen war, hatte Dylan mit einer Angst erfüllt, die so furchtbar war wie der Schrecken, der ihm jetzt das Herz zusammenzog. Was ihn in den nächsten Minuten erwartete, war ihm nicht unbekannt wie all die bisherigen Ereignisse, er kannte es nur allzu gut. Er fühlte sich auf diese s G rauen zutreiben wie ein Mann, der sich in einem kleinen Ruderboot den Niagarafällen näherte und nichts tun konnte, um den Sturz zu verhindern.
» Dylan! « , schrie Jilly auf einmal.
Als er sich nach ihr umdrehte, deutete sie auf den Boden.
Dort lag ein Perserteppich. Rund um ihre Füße wurde das farbige Muster von einer schimmernden Schwärze ausgelöscht, als hätten die Schuhe in Lachen aus Tinte gestanden. Die Schwärze kräuselte sich leicht, aber beständig. Als Dylan einen Fuß bewegte, kam die Tintenlache mit, und der Teil des Teppichs, der befleckt ausgesehen hatte, wurde sofort wieder rein;
Neben Dylan stand ein Stuhl, und als er ihn berührte, sah er, wie sich sogleich ein weiterer Tintenfleck rund um seine Hand auf dem Polster ausbreitete. Der Fleck war größer als Handfläche und Finger, hatte aber genau deren Form. Dylan bewegte die Hand hin und her, und der sie umgebende Fleck folgte ihr, ohne den Stoff zu beschmutzen.
Obwohl Dylan den Stuhl unter seiner Hand deutlich spürte, sah er keinerlei Vertiefung im Polster, als er versuchte, danach zu
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