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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Eingeweide, in die Geschlechtsteile oder in jede andere geeignete Stelle treten zu können, die er ihr zuwandte. Stattdessen sah sie das leere Gerüst vor sich. Zu ihrer Linken verlief der bemalte Fries, rechts stiegen die massiven Marmorsäulen in die Höhe.
    Statt der vielen Schreie, die sie vor ihrem Ausflug aufs Dach gehört hatte, stieg nun nur noch ein einziger von unten auf. Als Jilly hinabblickte, sah sie, wie eine Frau im rosa Kostüm versuchte, die anderen Gäste auf die Gefahr aufmerksam zu machen, indem sie » Da oben, da oben! « schrie. Sie zeigte aber nicht auf Jilly, sondern ganz woandershin.
    Endlich wurde Jilly klar, dass sie zur Rückwand des Raums blickte, nicht zum Altar. Sie drehte sich um und sah sofort den dritten Killer. Sechs Meter von ihr entfernt, balancierte er, an die Wand gebunden, am Rand der Plattform und starrte auf die Menge hinab. Die Mündung seiner Waffe war noch auf die gewölbte Decke gerichtet, aber er schien auf die Dame in Rosa reagieren zu wollen.
    Jilly rannte los. Noch vor vierundzwanzig Stunden wäre sie vor einem bewaffneten Mann weggerannt, aber nun rannte sie auf ihn zu.
    Obwohl ihr das Herz so laut wie eine Zirkustrommel bis zum Hals schlug und obwohl die Angst sich ihr wie eine Schlange durch die Eingeweide wand, besaß sie genügend Geistesgegenwart, um sich zu fragen, ob sie in ihrem Innern eine neue Furchtlosigkeit entdeckt oder eher den Verstand verloren hatte. Vielleicht traf ja beides zu.
    Außerdem spürte sie, dass ihr Drang, sich auf den Killer zu stürzen, damit zu tun hatte, dass die fleißig in ihrem Gehirn werkelnden Nanomaschinchen tief greifende Veränderungen in ihr bewirkten, Veränderungen, die grundlegender und wichtiger waren als die Ausstattung mit übernatürlichen Kräften. Was beileibe kein angenehmer Gedanke war.
    Die sechs Meter zwischen Jilly und dem letzten Killer waren so lang wie ein Marathon. Das Sperrholz unter ihr schie n s ich wie eine Tretmühle zu bewegen, um sie am Fortkommen zu hindern. Trotzdem zog sie es vor, zu sprinten, statt erneut auf ihr noch unausgereiftes Talent als Falterin zu vertrauen.
    Das laute Donnern laufender Füße auf der Plattform und die das Gerüst erschütternden Vibrationen lenkten den Killer von den Hochzeitsgästen ab. Während er Jilly den Kopf zuwandte, prallte sie auch schon auf ihn auf und stieß ihn zur Seite. Sie griff nach seiner Waffe.
    Mit einem Ruck versuchte Jilly, ihrem Gegner das Gewehr zu entreißen. Der Killer wehrte sich dagegen, aber auch Jilly klammerte sich fest und ließ selbst dann nicht los, als sie mit den Füßen den Halt verlor und vom Gerüst rutschte.
    Jillys fester Griff ersparte ihr einen weiteren Sturz; und den nach Knoblauch stinkenden Killer hielt dessen Sicherungsseil davon ab, sofort mit ihr von der Plattform gerissen zu werden.
    Im freien Raum hängend, blickte Jilly von unten in die Augen des Terroristen, die ihr wie schwarze Tümpel aus schwärendem Hass vorkamen. Auf einmal entdeckte sie in sich einen Zorn, wie sie ihn noch nie gespürt hatte. Geschürt wurde er von dem Gedanken daran, wie alle Söhne Kains über die Hügel und durch die Städte dieser Welt schlichen, motiviert von unzähligen sozialen Problemen und utopischen Visionen, aber auch von einem ureigenen Fieber angetrieben. Es war ein Fieber, das sie ewig gewaltbereit und blutrünstig werden ließ und das ihnen irre Träume von Macht und Herrschaft vorgaukelte.
    Da Jillys gesamtes Gewicht an seiner Waffe hing, hatte der Killer nicht die Kraft, ihr das Gewehr zu entreißen, weshalb er begann, es hin- und herzudrehen. Die Bewegung übertrug sich auf Jilly und zerrte an ihren Handgelenken. Wenn der Druck mit jeder Drehung weiter zunahm, würde ihr Körper den physikalischen Gesetzen gehorchen und ebenfalls zu rotieren beginnen, was ihr die Hände letztlich von der Waffe reißen würde.
    Der Schmerz in ihren gepeinigten Handgelenken und Sehnen war bald schlimmer als das Pochen der wunden Stelle, a n d er der Holzsplitter in sie eingedrungen war. Wenn sie losließ, konnte sie sich im Fallen zwar in Sicherheit falten, aber dann überließ sie dem Killer die Waffe, und bevor sie wiederkommen konnte, würde der hunderte von Schüssen auf die Menge abfeuern, die vom Kampf über ihren Köpfen so gebannt war, dass noch niemand daran gedacht hatte, aus der Kirche zu fliehen.
    Jillys Zorn entflammte zu einer wilden Wut, die von einem leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn und von Mitgefühl für die Unschuldigen

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