Kalt
sich ihrer Botschaft verweigere, etwas Schreckliches geschehen würde.
» Etwas Schreckliches? «, wiederholte Jilly. » Was denn? «
Das wisse er nicht, er spüre es nur, wie eine verfolgte Antilope auf hundert Meter den Gepard spüre, der hinter hohem Gras verborgen auf der Lauer liege, und wie ein durstiger Gepard in der Steppe ein meilenweit entferntes Wasserloch spüre.
Während seiner Erklärungsversuche hatte er das Gaspedal vernachlässigt. Die Tachometernadel zitterte bei fünfundachtzig Meilen. Er jagte sie auf neunzig.
Bei diesen Verkehrsverhältnissen, auf dieser Schnellstraße und mit diesem Fahrzeug neunzig Meilen pro Stunde zu fahren, war nicht nur illegal und unklug, sondern töricht, ja schlimmer als töricht – völlig schwachsinnig.
Trotzdem war Dylan nicht in der Lage, sich mit Vorhaltungen oder rationalen Argumenten zu zwingen, verantwortungsbewusst mit dem Risiko umzugehen. Das Leben von Shep und Jilly, aber auch sein eigenes, w ar durch seinen monomanen Drang, schneller, immer schneller nach Westen zu rasen, in Gefahr. In einer anderen Nacht oder au ch nur ein paar Stunden früher in dieser Nacht hätte schon der Gedanke an die Sicherheit seiner Mitfahrer ihn dazu gebracht, langsamer zu fahren, aber nun wurden alle moralischen Bedenken und sogar sein Selbsterhaltungstrieb von diesem fieberhaften Zwang überrollt.
Lastzüge und Sattelschlepper, Limousinen, Coupés, Geländewagen, Pick-ups, Lieferwagen, Autotransporter, Tankwagen rasten nach Westen, scherten ein und aus; und ohne auch nur einmal den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, jagte Dylan seinen Ford durch die Lücken im Verkehr wie ein scharfäugiger Schneider, der blitzschnell eine lange Reihe Nadeln einfädelte.
Selbst als die Tachonadel auf zweiundneunzig zeigte, beeinflusste Dylans Angst, auf ein anderes Fahrzeug zu prallen, ihn weniger als der schiere animalische Drang, vorwärts zu kom men. Als die Nadel an der dreiundneunzig vorbeikroch, machte er sich Sorgen wegen der Vibrationen, die wellenförmig das Fahrgestell erschütterten, aber das Tempo drosseln konnte er deshalb noch immer nicht.
Dieser extreme Zwang, dieses Gefühl, dahinrasen oder aber sterben zu müssen, war mehr als ein bloßer Impuls. Dylan war regelrecht besessen davon, bis ihm bei jedem gehetzten Atemzug der unheilvolle Ruf Die Zeit wird knapp! im Kopf dröhnte und bei jedem jagenden Herzschlag die Mahnung Schneller!
Wenn sie auf Schlaglöcher, Risse und Flickstellen im Pflaster trafen, knatterten die Reifen so laut wie Presslufthämmer, und Dylan dachte besorgt an die Folgen, die ein geplatzter Reifen bei diesem Tempo haben konnte. Dennoch jagte er den Ford ohne Rücksicht auf Stoßdämpfer und Federn auf sechsundneunzig, mit heulendem Motor und an den Fenstern pfeifendem Fahrwind auf siebenundneunzig; trotzdem zwängte er sich mit achtundneunzig Meilen zwischen zwei riesigen Trucks hindurch, und während er mit dem Zischen eines Marschflugkörpers an einem schnittigen Jaguar vorbeischoss, der ihm indigniert hinterherhupte, erreichte er die neunundneunzig.
Dass Jilly neben ihm saß, war ihm immer noch bewusst. Sie stemmte sich mit den Turnschuhen gegen das Armaturenbrett und versuchte hektisch, wieder in den Hosenträgergurt zu schlüpfen und sich an den Sitz zu schnallen. Aus den Augenwinkeln sah er, was ein kurzer Seitenblick bestätigte: Sie war in einen Zustand völligen Entsetzens verfallen. Wahrscheinlich sagte sie etwas zu ihm, wahrscheinlich erhob sie schreiend Widerspruch gegen seinen rücksichtslosen, blinden Drang nach Westen. Er konnte sogar ihre Stimme hören, die so hohl, tief und verzerrt wie ein Tonband klang, das mit der falschen Geschwindigkeit abgespielt wurde; aber er verstand kein einziges Wort.
Noch bevor der Tacho die hundert erreichte und erst recht, als er auf hundertundeins zeigte, übertrug sich jede Unregelmäßigkeit des Straßenpflasters mit verstärkter Wirkung aufs Lenkrad, das Dylan ständig aus den Händen zu rutschen drohte. Glücklicherweise war der Schweiß, der zuvor urplötzlich auf sein Gesicht und seine Handflächen getreten war, bereits im steten Luftstrom der Klimaanlage getrocknet. So behielt er auch bei hundertzwei und hundertdrei die Kontrolle, aber während er das Lenkrad sicher umklammert halten konnte, gelang es ihm nicht, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen.
Trotz des erhöhten Tempos nahm Dylans überwältigendes Bedürfnis nach Geschwindigkeit in keiner Weise ab. Im Gegenteil, je schneller sein Wagen
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