Kalt
Technicolor-Himmel spiegelte, war der Sportwagen die Verkörperung von Tempo, Freude, Freiheit. Neben der Cobra hing ein ernstes Porträt des grimmig dreinblickenden Kinderbuchautors C. S. Lewis. Da s d ritte Poster war das berühmte Foto des von grimmigen Kämpfen zernarbten Hügels auf Iwo Jima, auf dem US-Marineinfanteristen das Sternenbanner aufpflanzten.
Die weiter entfernte Hälfte des Zimmer war zwar ebenfalls mit Bett und Nachttisch ausgestattet, enthielt jedoch keinerlei Bücher oder Poster. Hier dienten die Wände dazu, eine stattliche Sammlung scharfkantiger Waffen auszustellen. Spitzdolche und Breitdolche, Entermesser, Stilette, ein Reitschwert, ein Krummsäbel, Kukris und Katare aus Indien, ein Skean-Dhu aus Schottland, eine kurzstielige Hellebarde, Bajonette, Falchione, Bowiemesser, Jatagane … Viele der Klingen waren mit kunstvollen Mustern verziert, die Griffe waren prunkvoll geschnitzt und schön lackiert, die Knäufe teils einfach, teils einfallsreich geschmückt.
In der nahen Hälfte des Zimmers stand ein kleiner Schreibtisch; darauf sah Dylan eine Schreibunterlage, Füller und Kugelschreiber, eine Dose mit Stiften, ein dickes Lexikon und ein Modell der 1966er AC Shelby Cobra, alles ordentlich arrangiert.
In der entfernten Zone befand sich ein Arbeitstisch mit der Kunststoffnachbildung eines menschlichen Schädels und einem zusammengestürzten Stapel pornografischer Videos.
Die nahe Sphäre war gefegt, abgestaubt, zwar komfortabler ausgestattet als eine Klosterzelle, aber in jeder Hinsicht so ordentlich wie die Wohnstatt eines Ordensbruders.
Im fernen Reich herrschte Unordnung. Das Bettzeug war wild durcheinander. Auf dem Boden, dem Nachttisch und der Ablage am Kopfende des Betts lagen schmutzige Socken, achtlos weggeworfene Schuhe, leere Cola- und Bierdosen und zerknüllte Schokoriegelhüllen herum. Nur die Messer und die anderen Mordwaffen waren mit Sorgfalt – wenn nicht gar mit liebevoller Berechnung – arrangiert, und dem spiegelhellen Glanz aller Klingen nach zu urteilen, hatte man auf ihre Pflege sehr viel Zeit verwendet.
Zwei Koffer standen Seite an Seite inmitten des Zimmers, genau auf der Grenze zwischen den gegnerischen Lagern. Auf dem Gepäck thronte ein schwarzer Cowboyhut mit einer grünen Feder im Band.
All dies registrierte Dylan während einer raschen Inventur der Szene, die nur drei, vier Sekunden dauerte. Schließlich war er schon lange daran gewöhnt, beim ersten Hinschauen alle Einzelheiten einer ganzen Landschaft in sich aufzunehmen. Noch bevor sein Kopf die Überhand über sein Herz gewann, konnte er auf diese Weise beurteilen, ob das Motiv die Zeit und die Energie verdiente, die nötig waren, um es zu malen, und zwar gut. Zu seiner angeborenen Begabung gehörte eine blitzschnelle fotografische Wahrnehmung, die er durch Übung drastisch gesteigert hatte. Ganz ähnlich, stellte er sich vor, schärfte auch jeder begabte junge Cop seine Beobachtungsgabe, bis er sich die Beförderung zum Detective verdient hatte.
Und wie es auch jeder gute Cop getan hätte, begann und beendete Dylan diesen ersten Rundblick mit dem auffälligsten Detail der Szene: Auf dem ersten Bett saß ein etwa dreizehnjähriger Junge. Er trug Jeans und ein T-Shirt mit dem Logo der New Yorker Feuerwehr, war an den Fußgelenken gefesselt, brutal geknebelt und mit Handschellen an die Messingstangen des Kopfendes gekettet.
*
Marge beherrschte ihre Imitation eines unbeweglichen Objekts wesentlich besser als Jilly ihre Rolle als unwiderstehlicher Kraftprotz. Fest in den Dielen der Veranda verankert, sagte die alte Frau besorgt: » Wir müssen ihn holen. «
Obwohl Dylan nicht ihr Freund war, jedenfalls nicht in dem Sinn, den Marge gemeint hatte, wusste Jilly nicht, wie sie ihn sonst bezeichnen sollte. Seinen echten Namen wollte sie vor dieser Frau nicht benutzen, und was er in dem Fastfoodschup pen bestellt hatte, wusste sie nicht. » Keine Sorge «, sagte sie deshalb. » Mein Freund wird ihn schon zur Vernunft bringen. «
» Ich hab nicht gemeint, wir sollen Kenny holen «, sagte Marge mit mehr Sorge als bisher.
» Wen dann? «
» Travis. Ich meine Travis. Der hat bloß seine Bücher. Kenny hat Messer, aber Travis hat bloß seine Bücher. «
» Wer ist Travis? «
» Kennys kleiner Bruder. Er ist dreizehn. Wenn Kenny ausrastet, kommt Travis unter die Räder. «
» Und Travis – ist der mit Kenny da drin? «
» Bestimmt. Wir müssen ihn rausholen. «
Am anderen Ende der Veranda stand die
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