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Kalt

Kalt

Titel: Kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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einem Stuhl gesessen und an einem Sportsocken gewürgt hatte. Im Innern spürte er einen Zorn, der sich bloß vorläufig wie mit Asche bedeckte Glut gelegt hatte und der jederzeit wieder aufflammen konnte, wenn er von einem Hauch rechtschaffener Empörung angefacht wurde. Diese potenziel l u ngestüme Wut war ungewohnt für ihn, weil er sich bislang für einen umgänglichen Menschen gehalten hatte, der stets glaubte, selbst das grausamste Herz könne geläutert werden, wenn man ihm nur die Schönheit der Natur und des Lebens nahe brachte. Jahrelang hatte er so oft die andere Wange dargeboten, dass er gelegentlich wie ein Zuschauer bei einem ewigen Tennismatch ausgesehen haben musste.
    Sein Zorn wurde jedoch nicht von dem genährt, was er erlitten hatte, und auch nicht von dem, was ihn noch erwartete, während sein von Zeug bestimmtes Schicksal seinen Lauf nahm, sondern von Mitgefühl für den Jungen und für alle Opfer in diesem Zeitalter der Gewalt. Schon möglich, dass die Sanftmütigen nach dem Jüngsten Gericht die Erde als Spielplatz bekamen, so wie versprochen, aber vorläufig hatten die Gewalttätigen hier ihren Spaß, an jedem neuen blutigen Tag.
    Dylan war sich der Ungerechtigkeit in der Welt immer bewusst gewesen, aber sie hatte ihn nie so betroffen gemacht wie jetzt. Nie zuvor hatte er gespürt, dass sie sich ihm wie ein Stachel ins Herz bohrte. Die Schärfe und Reinheit seines Zorns überraschten ihn, weil sie scheinbar in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem standen, was gerade geschah. Ein misshandelter Junge war weder Auschwitz noch die Massengräber der Roten Khmer in Kambodscha noch das World Trade Center.
    Wohl wahr, etwas Tiefgreifendes geschah mit ihm, aber diese Verwandlung beschränkte sich nicht allein auf den Erwerb eines sechsten Sinnes. Die Veränderungen waren weitreichender und Furcht erregender, waren tektonische Verschiebungen in den tiefsten Schichten seines Geistes.
    Als der Junge schließlich vom Knebel befreit war und sprechen konnte, zeigte sich, dass er gefasst und fähig war, sofort zum Kern der Sache zu kommen. Den Blick auf die offene Tür gerichtet, als wäre sie ein Tor, durch das jeden Augenblick die grässlichsten Truppen der Höllenarmee hereinmarschieren konnten, flüsterte er: » Kenny hat sich mit mindestens sech s S achen zugedröhnt. Ist total durchgeknallt. Hat ein Mädchen in Omas Zimmer mitgenommen; ich glaub, er macht sie kalt. Dann Oma. Und dann mich. Mich bringt er als Letzten um, weil er mich am meisten hasst. «
    » Was für ein Mädchen? «, fragte Dylan.
    » Becky. Sie wohnt ganz in der Nähe. «
    » Ein kleines Mädchen? «
    » Nein, siebzehn. «
    Die Kette, die um die Fußgelenke des Jungen geschlungen war, war mit einem Vorhängeschloss gesichert, und die Verbindung zwischen den beiden Spangen der Handschellen war um eine der senkrechten Messingstangen hinter dem Kopf des Jungen geführt worden, sodass er ganz ans Bett gefesselt war.
    » Schlüssel? «, fragte Dylan.
    » Die hat Kenny. « Endlich wandte der Junge den Blick von der offenen Tür ab und sah Dylan in die Augen. » Ich hänge hier fest. «
    Nun hingen mehrere Leben in der Schwebe. Obwohl ein Anruf bei der Polizei mit großer Sicherheit auch die Burschen in den schwarzen Chevrolets anziehen würde – mit tödlichen Konsequenzen für Dylan, Shep und Jilly –, war Dylan moralisch verpflichtet, die Notrufnummer zu wählen.
    » Telefon? «, raunte er.
    » In der Küche «, flüsterte der Junge. » Und eins in Omas Zimmer. «
    Intuitiv wusste Dylan, dass er keine Zeit mehr hatte, in die Küche zu schleichen, um anzurufen. Außerdem wollte er den Jungen hier oben nicht allein lassen. Soweit er wusste, gehörte Vorahnung nicht zu seinen übersinnlichen Gaben, aber dennoch verdichtete sich die Luft um ihn, war erfüllt mit der Erwartung von Gewalt. Wenn das Morden nicht schon begonnen hatte, dann würde es das tun, noch bevor er das untere Ende der mit Rosengirlanden geschmückten Treppe erreicht hatte, darauf hätte er seine Seele verwetten können.
    In Omas Zimmer war ebenfalls ein Telefon, aber da war offenbar auch Kenny. Ging Dylan da hinein, würde er mehr brauchen als einen ruhigen Finger für die Tastatur.
    Erneut zogen die Waffen an den Wänden seine Aufmerksamkeit auf sich, die Vorstellung jedoch, irgendjemanden mit einem Schwert oder einer Machete aufzuschlitzen, war ihm zuwider. Er hatte nicht den Mumm für derart unappetitliche Taten.
    Der Junge hatte Dylans erneutes Interesse an den

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