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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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einen grünen Pulli und streifte das Drittwertvollste, was sie besaß, über ihr Handgelenk, eine goldene Armbanduhr; darüber rangierten nur Evinrude, ihre geliebte Katze, und Bobbys Siegelring – der etwas klobige Beweis dafür, dass sie miteinander »gingen«. Sie trug ihn am Daumen (wenn sie ihn trug; der kleinste Streit, und runter damit), da der Männerring selbst mit Hilfe von Klebeband auf keinen anderen Finger passte. Nancy war ein hübsches Mädchen, schlank und von jungenhaftem Schwung, und das Schönste an ihr waren ihr kurz geschnittenes, kastanienbraun glänzendes Haar (das morgens und abends mit je hundert Strichen gebürstet wurde) und ihr rosiger, von der Sonne des vergangenen Sommers zart gebräunter, leicht sommersprossiger Teint.
    Aber es waren ihre Augen, weit auseinanderliegend und dunkel schimmernd, wie gegen das Licht gehaltenes Bier, die sie auf Anhieb sympathisch machten und die nicht nur ihr argloses Wesen, sondern auch ihre großzügige Hilfsbereitschaft offenbarten.
    »Nancy!«, rief Kenyon. »Susan ist am Telefon.«
    Susan Kidwell, ihre beste Freundin. Wieder ging sie an den Apparat in der Küche.
    »Sag mal«, sagte Susan, die jedes Telefongespräch mit dieser Aufforderung begann. »Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, mit Jerry Roth zu flirten?« Jerry Roth war wie Bobby einer der Stars der Basketballmannschaft.
    »Gestern Abend? Mein Gott, ich habe doch nicht mit ihm geflirtet. Du meinst, weil wir Händchen gehalten haben? Er ist während der Vorstellung hinter die Bühne gekommen. Und ich war so nervös. Da hat er meine Hand gehalten. Um mir Mut zu machen.«
    »Wie süß. Und dann?«
    »Dann ist Bobby mit mir in den Horrorfilm gegangen.
    Und da haben wir Händchen gehalten.«
    »War er gruselig? Nicht Bobby. Der Film.«
    »Bobby hat sich halbtot gelacht. Aber du kennst mich ja.
    Buh! – und ich verkrieche mich vor Angst unter dem Sitz.«
    »Was kaust du denn da?«
    »Nichts.«
    »Ich weiß schon – Fingernägel«, sagte sie und lag mit ihrer Vermutung völlig richtig. Nancy bemühte sich nach Kräften, aber sie konnte es sich einfach nicht abgewöhnen, an ihren Nägeln zu knabbern und sie, wenn sie Sorgen hatte, bis zum Fleisch abzukauen. »Sag mal, stimmt was nicht?«
    »Nein.«
    »Nancy. C’est moi … « Susan lernte Französisch.
    »Na ja – es geht um Daddy. Er ist seit drei Wochen furchtbar schlecht gelaunt. Furchtbar. Zumindest wenn ich in seiner Nähe bin. Und als ich gestern Nacht nach Hause kam, fing er schon wieder damit an.«
    Dieses »damit« bedurfte keiner näheren Erklärung; die beiden Freundinnen hatten das Thema mehr als ausführlich erörtert und waren sich in allen Punkten einig. Susan hatte das Problem aus Nancys Sicht einmal wie folgt zusammengefasst: »Du liebst Bobby, und du brauchst ihn. Aber in seinem tiefsten Innern weiß selbst Bobby, dass die Sache keine Zukunft hat. Wart’s ab, wenn wir erst mal in Manhattan sind, sieht die Welt ganz anders aus.« Die Kansas State University ist in Manhattan, und die beiden Mädchen wollten sich dort ein Zimmer teilen und Kunst studieren. »Dann wird sowieso alles anders, ob du willst oder nicht. Aber solange du in Holcomb bist, Bobby täglich siehst und mit ihm in einer Klasse sitzt, kannst du daran nichts ändern – und das ist auch gar nicht nötig. Denn ihr seid schließlich sehr glücklich miteinander. Und wenn es eines Tages vorbei ist, bleibt dir wenigstens eine glückliche Erinnerung.
    Kannst du deinem Vater das denn nicht begreiflich machen?« Nein, das könne sie leider nicht. »Immer, wenn ich davon anfange«, erklärte Nancy ihrer Freundin, »sieht er mich an, als ob ich ihn nicht mehr lieb hätte. Oder als ob ich ihn weniger lieb hätte. Und dann weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen soll; dann möchte ich nur noch seine Tochter sein und tun, was er will.« Darauf wusste Susan keine Antwort, denn hierbei ging es um Gefühle und Beziehungen, die sie nicht kannte. Sie lebte allein mit ihrer Mutter, die an der Holcomb School Musik unterrichtete, und konnte sich an ihren Vater kaum entsinnen, da Mr. Kidwell eines Tages, vor vielen Jahren, in ihrer alten Heimat Kalifornien aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen war.
    »Außerdem«, fuhr Nancy fort, »bin ich mir gar nicht so sicher, dass er meinetwegen so miese Laune hat. Nein – ich glaube, in Wirklichkeit haben seine Sorgen einen ganz anderen Grund.«
    »Deine Mutter?«
    Keine von Nancys Freundinnen hätte es gewagt, sich in

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