Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
Vom Netzwerk:
über sie gesagt hat?« Mrs. Stringer war ihre Hauswirtschaftslehrerin. »›Nancy Clutter‹, hat sie uns einmal erklärt, ›ist immer in Eile, hat aber immer Zeit.
    Und genau das macht eine echte Dame aus.‹«
    »Ja«, antwortete Mrs. Clutter. »Meine Kinder sind alle furchtbar fleißig. Sie brauchen mich nicht.«
    Jolene war mit Nancys »komischer« Mutter noch nie allein gewesen, doch nach allem, was sie über sie gehört hatte, fühlte sie sich in ihrer Gegenwart eigentlich recht wohl, da Mrs. Clutter, obgleich selbst alles andere als ruhig, etwas Beruhigendes ausstrahlte, wie die meisten wehrlosen Menschen, von denen keinerlei Bedrohung ausgeht; und so weckten Mrs. Clutters herzförmiges Missionarinnengesicht und die sie umgebende, ein wenig hausbackene Aura hilfloser Entrücktheit selbst bei einem sehr kindlichen Kind wie Jolene so etwas wie Beschützerinstinkt. Kaum zu glauben, dass diese Frau tatsächlich Nancys Mutter war! Eine Tante – ja, schon eher; eine altjüngferliche Tante auf Besuch, etwas verschroben, aber nett.
    »Nein, sie brauchen mich nicht«, wiederholte sie und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Während ihre Kinder den väterlichen Boykott dieses Getränks uneingeschränkt unterstützten, trank sie jeden Morgen zwei Tassen und nahm manchmal den ganzen Tag nichts anderes zu sich.
    Sie wog knapp fünfundvierzig Kilo; ihre beiden Ringe – der Ehering und ein bescheidener, geradezu unscheinbarer Diamantring – saßen lose an ihren knochigen Fingern.
    Jolene schnitt sich ein Stück Kuchen ab. »Junge, Junge!«, sagte sie und schlang es hinunter. »Ab heute backe ich jeden Tag so einen.«
    »Tja, du hast ja auch viele kleine Brüder, und Jungs können Unmengen von Kuchen verdrücken. Mr. Clutter und Kenyon kriegen gar nicht genug davon. Im Gegensatz zur Köchin – Nancy rümpft darüber nur die Nase. Und so wird es dir früher oder später auch ergehen. Nein, nein – was rede ich denn da?« Mrs. Clutter setzte ihre randlose Brille ab und rieb sich die Augen. »Verzeih mir, Liebes.
    Du wirst bestimmt nie erfahren, was es heißt, ständig müde und erschöpft zu sein. Du wirst bestimmt ein glücklicher, zufriedener Mensch …«
    Jolene schwieg. Der panische Unterton in Mrs. Clutters Stimme stürzte sie in einen Zwiespalt der Gefühle; Jolene war verwirrt und hoffte inständig, dass ihre Mutter, die versprochen hatte, sie um elf Uhr abzuholen, endlich kam.
    Schließlich fragte Mrs. Clutter, etwas gefasster: »Magst du Miniaturen? Kleine Dinge?«, und führte Jolene zur Etagere im Speisezimmer, in der auf mehreren Ebenen allerlei winziger Krimskrams ausgebreitet lag – Scheren, Fingerhüte, Blumenkörbchen aus Kristall, Spielzeugfiguren, Messerchen und Gäbelchen. »Ein paar davon hatte ich schon als Kind. Daddy, Mama und wir Kinder verbrachten die Sommerferien immer in Kalifornien. Am Meer. Und da gab es einen Laden, der so niedliche kleine Sachen verkaufte. Die Tässchen hier, zum Beispiel.« Ein zierliches Tablett mit zwei Puppenteetassen darauf lag zitternd in ihrer hohlen Hand. »Die hat Daddy mir geschenkt; ich hatte eine wunderbare Kindheit.«
     
    Als einzige Tochter eines wohlhabenden Weizenfarmers namens Fox und über alles geliebte Schwester dreier älterer Brüder war sie nicht nur verwöhnt, sondern regelrecht behütet und in dem Irrglauben belassen worden, das Leben sei eine einzige Folge von Annehmlichkeiten – Herbst in Kansas, Sommer in Kalifornien, ein immerwährendes Kaffeekränzchen. Mit achtzehn begann sie, angesteckt durch die Lektüre einer Florence-Nightingale-Biografie, als Lernschwester im St.
    Rose’s Hospital in Great Bend, Kansas. Doch das war nicht das Richtige für sie, und nach zwei Jahren gestand sie es sich schließlich ein: Der Alltag in einem Krankenhaus – der Anblick der Patienten, die Gerüche – widerte sie an.
    Dennoch bereute sie es bis heute, dass sie die Ausbildung abgebrochen und ihr Schwesterndiplom nicht gemacht hatte – »und sei es nur, um zu beweisen«, wie sie einer Freundin verriet, »dass ich auch einmal etwas zu Ende gebracht habe.« Stattdessen hatte sie Herb, einen Kommilitonen ihres ältesten Bruders Glenn, kennen gelernt und geheiratet; da die beiden Familien kaum zwanzig Meilen auseinander wohnten, kannte sie ihn eigentlich schon vom Sehen, auch wenn die Clutters, einfache Farmersleute, mit den vermögenden und kultivierten Foxes nicht unbedingt auf freundschaftlichem Fuße standen. Doch Herb sah gut aus, er war fromm, er war

Weitere Kostenlose Bücher