Kaltblütig
derartigen Andeutungen zu ergehen. Das durfte nur Susan. Das um ein Jahr jüngere Mädchen war mit acht nach Holcomb gekommen – ein trauriges, fantasiebegabtes Kind, dürr, blass und sensibel –, und die Clutters hatten es so herzlich bei sich aufgenommen, dass das vaterlose kleine Gör aus Kalifornien schon bald zur Familie gehörte. Sieben Jahre lang waren die beiden nicht nur unzertrennlich, sondern einander unersetzlich gewesen, da sie sich, was selten genug vorkam, in Gefühlsdingen sehr ähnlich waren. Aber dann, vergangenen September, war Susan von der örtlichen auf die größere und angeblich bessere Schule in Garden City gewechselt. Das war unter den Holcomber Schülern, die studieren wollten, so üblich, doch als eingefleischter Lokalpatriot betrachtete Mr. Clutter derlei Fluchten als einen Affront gegen die Gemeinde; die Holcomb School war gut genug für seine Kinder, und dort würden sie auch bleiben.
Dadurch konnten sich die Mädchen jetzt nicht mehr so häufig sehen, und Nancy fehlte die Freundin sehr, denn Susan war der einzige Mensch, in dessen Gegenwart sie weder die Unerschrockene noch die Besonnene zu spielen brauchte.
»Na ja. Dabei freuen wir uns doch alle so sehr für Mutter – du weißt ja, was sie für tolle Neuigkeiten mitgebracht hat.« Dann plötzlich sagte Nancy »Hör mal« und zögerte, als müsse sie all ihren Mut zusammennehmen, bevor sie etwas so Unerhörtes aussprach: » Warum rieche ich ständig Rauch? Ehrlich, ich glaube, ich werde allmählich verrückt. Egal ob ich ins Auto steige oder in ein Zimmer komme, überall riecht es, als ob gerade jemand eine Zigarette geraucht hätte. Mutter ist es nicht, Kenyon kann es nicht sein. Kenyon würde es nicht wagen …«
Ebenso wenig wie jeder andere Besucher im Hause Clutter, in dem ein auffallender Mangel an Aschenbechern herrschte. Langsam wurde Susan klar, worauf Nancy hinauswollte, aber das war einfach absurd. Was auch immer ihn insgeheim bekümmern mochte, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Mr. Clutter Trost im Tabak suchte. Sie wollte Nancy eben danach fragen, da kam Nancy ihr zuvor: »Tut mir leid, Susie. Ich muss Schluss machen. Mrs. Katz ist da.«
Dick fuhr einen schwarzen Chevrolet, Baujahr 1949. Als Perry einstieg, sah er nach, ob seine Gitarre noch auf dem Rücksitz lag; am Vorabend hatte er Dicks Freunden auf einer Party etwas vorgespielt und sie dann im Wagen vergessen. Es war eine alte Gibson, geschmirgelt und mit Wachs auf honiggelben Glanz gebracht. Daneben lag ein etwas anderes Instrument – ein Vorderschaft-Repetiergewehr Kaliber 12, nagelneu, mit gebläutem Lauf, dessen Kolben eine Tierszene zierte, Fasanen im Flug. Eine Taschenlampe, ein Angelmesser, ein Paar Lederhandschuhe und eine mit Munition bestückte Jagdweste vervollständigten das kuriose Stillleben.
»So was trägst du?«, fragte Perry und zeigte auf die Weste.
Dick pochte mit den Knöcheln gegen die Windschutzscheibe. »Klopf, klopf. Verzeihung, Sir. Wir waren auf der Jagd und haben uns verirrt. Wenn wir mal eben Ihr Telefon benutzen dürften …«
»Si, señor. Yo comprendo.«
»Kinderspiel«, meinte Dick. »Ich sag dir, Schätzchen, wir tapezieren die Wände mit denen ihrem Hirn.«
»›Deren‹ Hirn«, sagte Perry. Seit sie sich im Kansas State Penitentiary eine Zelle geteilt hatten, war er, als ausgemachter Büchernarr und Liebhaber obskurer Wörter, stets darum bemüht, die Grammatik seines Gefährten zu verbessern und Dicks Wortschatz zu erweitern. Dick nahm ihm das nicht weiter krumm, im Gegenteil; um seinem Lehrer eine Freude zu machen, hatte der Schüler einmal sogar einen Stapel Gedichte verfasst, und obwohl die Verse recht obszön waren, hatte Perry, der sie trotz allem urkomisch fand, das Manuskript in der Gefängniswerkstatt in Leder binden und den Titel, Dirty Jokes, in Gold auf den Deckel prägen lassen.
Dick trug einen blauen Overall; der auf den Rücken gestickte Schriftzug warb für BOB SANDS’ BODY SHOP.
Perry und er fuhren die Hauptstraße von Olathe entlang zu Bob Sands’ Reparaturwerkstatt, wo Dick nach seiner Entlassung Mitte August eine Anstellung gefunden hatte.
Als gelernter Autoschlosser bekam er sechzig Dollar die Woche. Für die Arbeit, die er heute Morgen zu erledigen gedachte, verdiente er zwar keinen Lohn, doch Mr. Sands, der ihm die Werkstatt samstags überließ, würde nie erfahren, dass er seinen Gehilfen für die Überholung seines eigenen Wagens bezahlte. Dick machte
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