Kaltblütig
bestimmt todmüde ‹, habe ich gesagt, ›wo sie gestern Abend doch so wunderbar Theater gespielt hat.‹
Hach, Liebes, du warst bildschön. Die weißen Bänder in deinem Haar! Und dann die Szene, als du dachtest, Tom Sawyer wäre tot – du hattest echte Tränen in den Augen.
Wie im Fernsehen. Aber dein Daddy meinte, es wird langsam Zeit, dass du aus den Federn kommst; na ja, es ist ja auch schon fast neun. Aber weshalb ich eigentlich anrufe, Liebes – meine kleine Tochter, meine kleine Jolene, möchte unbedingt einen Kirschkuchen backen, und weil du eine wahre Meisterbäckerin bist und mit deinen Kuchen ständig Preise gewinnst, dachte ich, ich bringe sie nachher bei euch vorbei, und du zeigst ihr, wie es geht?«
Normalerweise hätte Nancy der kleinen Jolene mit Freuden beigebracht, wie man ein komplettes Truthahndinner zaubert; sie hielt es für ihre Pflicht, für die jüngeren Mädchen da zu sein, wenn sie Hilfe beim Kochen, Nähen oder Musizieren brauchten – oder sich ihr, wie so häufig, anvertrauen wollten. Alle fragten sich, wo sie die Zeit dafür hernahm, denn sie hielt nicht nur »das große Haus praktisch allein in Schuss«, sondern war obendrein eine glänzende Schülerin und Klassensprecherin, Leiterin des 4-H Club und der Young Methodists League, eine versierte Reiterin, eine exzellente Musikerin (Klavier, Klarinette), von den Auszeichnungen, die sie bei der alljährlichen County Fair gewann (Kuchenbacken, Einmachen, Handarbeiten, Blumenstecken), ganz zu schweigen – wie eine kaum Siebzehnjährige ein solches Pensum zu bewältigen vermochte, und das ohne »Angeberei«, vielmehr mit heiterer Gelassenheit, war den Leuten ein Rätsel, das sie sich folgendermaßen zu erklären versuchten: »Sie hat eben Charakter.
Den hat sie von ihrem alten Herrn geerbt.« Und zweifellos hatte sie ihre hervorstechendste Eigenschaft, die Gabe, die ihr all das ermöglichte, von ihrem Vater: ein ausgeprägtes Organisationstalent. Jede Sekunde war verplant; sie wusste jederzeit genau, was wann zu tun war und wie lange sie dazu brauchen würde. Und eben da lag das Problem: Sie hatte sich für heute zu viel vorgenommen. Sie hatte sich verpflichtet, Roxie Lee Smith, einem anderen Mädchen aus der Nachbarschaft, mit einem Trompetensolo zu helfen, das Roxie Lee beim Schulkonzert aufführen wollte, hatte versprochen, drei komplizierte Besorgungen für ihre Mutter zu erledigen und mit ihrem Vater zu einem Vereinstreffen des 4-HClub in Garden City zu fahren. Außerdem musste sie das Mittagessen kochen und die selbstentworfenen Brautjungfernkleider für Beverlys Hochzeit fertignähen. Da blieb einfach keine Zeit für Jolenes Backkurs. Es sei denn, sie konnte einen dieser Termine absagen.
»Mrs. Katz? Würden Sie bitte einen Augenblick dranbleiben?«
Sie marschierte quer durchs Haus ins Büro ihres Vaters.
Das Büro, das einen Außeneingang für gewöhnliche Besucher hatte, war vom Wohnzimmer durch eine Schiebetür getrennt; obwohl Mr. Clutter es gelegentlich mit Gerald Van Vleet teilte, einem jungen Mann, der ihm bei der Leitung und Verwaltung des Farmbetriebes half, diente es ihm in erster Linie als Refugium – ein behagliches, mit Nussbaumfurnier getäfeltes Zimmer, in dem er, umgeben von Wetterbarometern, Regenkarten und seinem Fernglas, saß wie ein Kapitän in seiner Kajüte, ein Navigator, der die River Valley Farm durch die bisweilen recht unsicheren Gewässer der Jahreszeiten lotste.
»Kein Problem«, sagte er, nachdem Nancy ihr Anliegen vorgetragen hatte. »Dann fahre ich stattdessen eben mit Kenyon zum 4-H.«
Und so nahm Nancy den Hörer des Telefons im Büro ab und sagte zu Mrs. Katz, ja, alles klar, bringen Sie Jolene nur ruhig vorbei. Stirnrunzelnd legte sie auf. »Komisch«, meinte sie und blickte sich im Zimmer um: Ihr Vater half Kenyon, eine Zahlenkolonne zu addieren, und an seinem Schreibtisch am Fenster saß Mr. Van Vleet, ein gut aussehender, wenngleich etwas schwermütiger Bursche mit scharf geschnittenen Zügen, weshalb Nancy ihn hinter seinem Rücken manchmal Heathcliff nannte.
»Aber hier hat doch einer geraucht.«
»Das kannst ja eigentlich nur du gewesen sein«, sagte Kenyon.
»Nein, du Witzbold. Du.«
Das brachte ihn zum Schweigen, denn Kenyon wusste, dass sie wusste, dass er hin und wieder heimlich qualmte – aber das tat Nancy schließlich auch.
Mr. Clutter klatschte in die Hände. »Ruhe jetzt. Hier wird gearbeitet.«
Sie ging in ihr Zimmer hinauf, schlüpfte in verwaschene Levis und
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