Kaltblütig
meinten einen Augen zeugen? Dick hingegen hatte sofort gewusst, wer dieser sogenannte Zeuge war: Floyd Wells, sein alter Freund und ehemaliger Zellengenosse. Gegen Ende seiner Haft hatte Dick mit dem Gedanken gespielt, Floyd abzustechen – mitten ins Herz, mit einer selbstgemachten »Schneide«; schön blöd von ihm, dass er es nicht getan hatte. Außer Perry war Floyd Wells der einzige Mensch, der die Namen Hickock und Clutter in Verbindung bringen konnte. Floyd, mit seinen hängenden Schultern und dem fliehenden Kinn – Dick hatte gedacht, er hätte zu viel Schiss. Das Arschloch rechnete vermutlich mit einer tollen Belohnung – Bewährung oder Geld, oder beides. Aber da konnte er warten, bis er schwarz wurde. Denn das Geschwätz eines Strafgefangenen war kein Beweis. Fußspuren, Fingerabdrücke, Zeugen, ein Geständnis, das sind Beweise.
Mensch, wenn diese Cowboys nichts weiter in der Hand hatten als die Geschichte, die Floyd Wells ihnen verklickert hatte, brauchten sie sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Im Grunde war Floyd nicht halb so gefährlich wie Perry. Wenn Perry die Nerven verlor und durchdrehte, konnte er sie beide an den Galgen bringen.
Und plötzlich kam Dick die Erkenntnis.
Er hätte Perry zum Schweigen bringen sollen. Auf einer Gebirgsstraße in Mexiko. Oder bei ihrem Marsch durch die Mojave-Wüste. Warum war er erst jetzt darauf gekommen? Denn jetzt, jetzt war es dazu viel zu spät.
Nachmittags, um fünf nach drei, gab Perry schließlich zu, dass die Sache mit Fort Scott erfunden war. »Das hatte Dick bloß seinen Eltern erzählt. Damit er über Nacht wegbleiben konnte. Und um die Häuser ziehen. Sein Vater ließ ihn ja keine Minute aus dem Augen – er hatte Angst, dass er gegen die Bewährungsauflagen verstößt. Da haben wir uns die Ausrede mit meiner Schwester einfallen lassen. Um Mr. Hickock zu beruhigen.« Sonst erzählte er immer wieder dieselbe Geschichte, doch sooft sie seine Angaben auch widerlegen und ihn Lügen strafen konnten, es gelang Duntz und Dewey nicht, ihn davon abzubringen – stattdessen schmückte er sie ständig weiter aus. Heute hießen die »Nutten« Mildred und Jane (oder Joan). »Die haben uns beklaut«, entsann er sich mit einem Mal, »und sich mit unserer Kohle aus dem Staub gemacht, als wir noch schliefen.« Und obwohl Duntz die Fassung längst verloren – und mit Krawatte und Jackett auch seine rätselhafte, schläfrige Gemütsruhe abgelegt hatte, wirkte der Verdächtige heiter und gelassen; er gab nicht klein bei. Er kenne weder die Clutters noch Holcomb, geschweige denn Garden City.
Schräg gegenüber, in dem verrauchten Raum, wo Hickock zum zweiten Mal vernommen wurde, verfolgten Church und Nye systematisch eine weniger direkte Strategie. Im Lauf des mittlerweile fast dreistündigen Verhörs hatten die beiden noch kein einziges Mal von Mord gesprochen – eine Unterlassung, die den Gefangenen nervös machte und bei der Stange hielt. Sie sprachen über alles Mögliche: Hickocks Ansichten zur Religion (»Mit der Hölle kenne ich mich aus. Ich bin selbst dort gewesen.
Mag sein, dass es auch einen Himmel gibt. Viele Reiche glauben fest daran«); über sein sexuelles Vorleben (»In der Beziehung bin ich hundertprozentig normal«); und, noch einmal, über die Geschichte seiner Odyssee kreuz und quer durchs ganze Land (»Wir sind nur deshalb so viel durch die Gegend gekurvt, weil wir einen Job suchten, aber nichts Anständiges finden konnten. Ich hab mal einen Tag lang Straßengräben ausgehoben …«). Im Mittelpunkt des Interesses stand jedoch, was bislang niemand ausgesprochen hatte – die Ursache, davon waren die Detectives überzeugt, für Hickocks wachsendes Unbehagen. Jetzt schloss er die Augen und berührte die Lider mit zitternden Fingerspitzen. Und Church fragte:
»Fehlt Ihnen was?« »Kopfschmerzen. Ich hab ’nen Hammerschädel.« »Sehen Sie mich an, Dick«, sagte Nye.
Hickock gehorchte, mit einem Gesichtsausdruck, den der Detective als die Bitte deutete, es endlich auszusprechen, ihn der Tat zu bezichtigen und dem Gefangenen damit Gelegenheit zu geben, sich in strikte Unschuldsbekundungen zu flüchten. »Wie Sie sich bestimmt erinnern werden, habe ich die Clutter-Morde bei unserem gestrigen Gespräch als fast perfektes Verbrechen bezeichnet.
Die Killer haben nur zwei Fehler gemacht. Erstens haben sie einen Zeugen übersehen. Und zweitens – nun ja, ich will es Ihnen zeigen.« Er stand auf und holte aus einer Ecke einen Karton und
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