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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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auslöschten.«
    Green hielt inne und betastete ein Furunkel in seinem Nacken, ein entzündetes Geschwür, das, wie sein zorniger Träger, jeden Augenblick zu platzen drohte. »Was also, meine Herren, werden Sie tun? Auf die geringstmögliche Strafe erkennen? Sie ins Gefängnis zurückschicken, auf die Gefahr hin, dass sie ausbrechen oder vorzeitig entlassen werden? Das nächste Mal schlachten sie vielleicht Ihre Familie ab. Ich sage Ihnen«, deklamierte er feierlich und warf der Jury einen Blick zu, der sie zugleich provozierte und in Bann schlug, »einige der ungeheuerlichsten Verbrechen in diesem Lande konnten nur geschehen, weil eine feige Bande von Geschworenen sich weigerte, ihre verdammte Pflicht zu tun. Und nun, meine Herren, überlasse ich es Ihnen und Ihrem Gewissen.«
    Er setzte sich. West flüsterte ihm zu: »Das war meisterhaft, Sir.«
    Doch nicht alle Zuhörer vermochten seine Begeisterung zu teilen; und nachdem die Jury sich zur Beratung zurückgezogen hatte, kam es zwischen einem jungen Reporter aus Oklahoma und einem anderen Journalisten, Richard Parr vom Kansas City Star, zu einem scharfen Wortwechsel. Der Mann aus Oklahoma nannte Greens Rede »grausam, hetzerisch«.
    »Er hat nur die Wahrheit gesagt«, meinte Parr. »Und die Wahrheit ist eben manchmal grausam. Sprichwörtlich formuliert.«
    »Aber so heftig hätte er nun doch nicht zulangen müssen. Das ist unfair.«
    »Was ist unfair?«
    »Der ganze Prozess. Die Burschen haben doch nicht die geringste Chance.«
    »Die hatte Nancy Clutter schließlich auch nicht.«
    »Perry Smith. Mein Gott. Er hat ein so erbärmliches Leben hinter sich …«
    »Aber da kann doch fast jeder ein Lied von singen«, meinte Parr. »Ich eingeschlossen. Ich trinke vielleicht zu viel, aber deswegen bringe ich doch nicht kaltblütig vier Menschen um. Wie dieser kleine Scheißer.«
    »Und wenn sie den ›kleinen Scheißer‹ nun hängen? Ist das etwa nicht kaltblütig?«
    Reverend Post, der das Gespräch mit angehört hatte, schaltete sich ein. »Also«, sagte er und reichte ein Foto von Perry Smiths Christusporträt herum, »wer so ein Bild malt, kann kein ganz schlechter Mensch sein. Trotzdem ist es schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. Die Todesstrafe ist keine Lösung: Sie lässt dem Sünder keine Zeit, zu Gott zu finden. Manchmal könnte ich glatt verzweifeln.« Der Reverend, ein launiger Mann mit Goldzähnen und silbrigem, in der Stirnmitte spitz zulaufendem Haaransatz, wiederholte launig: »Manchmal könnte ich glatt verzweifeln. Und manchmal denke ich, der gute alte Doc Savage hatte die richtige Idee.« Doc Savage war der fiktive Held einer Groschenromanreihe, die sich bei den jugendlichen Lesern der vorangegangenen Generation großer Beliebtheit erfreut hatte.
    »Wie sich der eine oder andere von euch bestimmt erinnert, war Doc Savage so etwas wie ein Übermensch. Er war auf sämtlichen Gebieten bewandert – Medizin, Wissenschaft, Philosophie, Kunst. Es gab nicht viel, was der gute alte Doc nicht wusste oder konnte. Und so fasste er unter anderem den Plan, die Welt von Verbrechern zu befreien. Zu diesem Zweck kaufte er zunächst eine große Insel weit draußen im Meer. Dann entführten er und seine Helfer – er hatte ein ganzes Heer von hoch qualifizierten Helfern – sämtliche Verbrecher dieser Welt und brachten sie auf die Insel. Dort unterzog Doc Savage sie einer Gehirnoperation. Er entfernte den Teil des Gehirns, in dem die bösen Gedanken sitzen. Und als sie sich von der Operation erholt hatten, waren sie alle anständige Bürger. Sie konnten keine Verbrechen mehr begehen, weil ihnen der entsprechende Teil des Gehirns fehlte. Inzwischen frage ich mich, ob so ein chirurgischer Eingriff nicht vielleicht die Lösung für …«
    Eine Klingel, die anzeigte, dass die Geschworenen zurück waren, ließ ihn verstummen. Die Beratung der Geschworenen hatte vierzig Minuten gedauert. Viele Zuschauer hatten mit einer raschen Entscheidung gerechnet und ihre Plätze darum gar nicht erst verlassen.
    Richter Tate hingegen musste von seiner Farm geholt werden, wohin er gefahren war, um seine Pferde zu füttern. Eine eilig übergestreifte schwarze Robe umwehte ihn, als er schließlich erschien, und doch stellte er mit beeindruckender Würde und Gelassenheit die Frage:
    »Meine Herren Geschworenen, sind Sie zu einer Einigung gelangt?« Der Obmann antwortete: »Jawohl, Euer Ehren.«
    Der Gerichtsdiener trug die versiegelten Wahrsprüche zur Richterbank.
    Das Pfeifen

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