Kaltblütig
Fällen von extremer elterlicher Gewalt geprägt … Ein Mann gab an, er sei ›bei jeder Gelegenheit verprügelt‹ worden … Ein anderer wurde immer wieder brutal geschlagen, um ihm sein Stottern und seine ›Anfälle‹ abzugewöhnen oder ihn für sein angeblich ›schlechtes‹ Benehmen zu bestrafen …
Der Hinweis auf extreme Gewalt, ob eingebildet, miterlebt oder vom Kind am eigenen Leib erfahren, stützt die psychoanalytische Hypothese, nach der die Einwirkung überwältigender Reize auf das Kind, das diese noch nicht verarbeiten kann, zu defizitärer Ichbildung und späteren schweren Störungen der Triebkontrolle führt. In allen Fällen gab es Anzeichen für eine emotionale Vernachlässigung im Kindesalter, in Form von längerer oder wiederholter Abwesenheit eines oder beider Elternteile, chaotischen Familienverhältnissen oder offener Ablehnung des Kindes durch einen oder beide Elternteile, sodass das Kind gezwungen war, außerhalb des Elternhauses aufzuwachsen … Auch gibt es deutliche Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Affektorganisation. Dafür spricht, dass die Männer in Zusammenhang mit aggressiven Gewalthandlungen keinerlei Wut oder Zorn empfanden. Keiner der Männer berichtete von Wutgefühlen in Verbindung mit den Morden, noch neigten sie überhaupt zu unmäßigem Zorn, obwohl jeder von ihnen zu außerordentlich brutaler Aggression imstande war … Da ihre Beziehungen zu anderen kühl und oberflächlich blieben, führten sie ein einsames, isoliertes Leben. Sie nahmen ihre Mitmenschen kaum wahr, weshalb sie ihnen gegenüber weder herzliche noch positive (oder auch nur ablehnende) Gefühle entwickelten … Die Empfindungen der drei zum Tode Verurteilten ihrem eigenen Schicksal und dem ihrer Opfer gegenüber waren oberflächlich. Auffallend war insbesondere das Fehlen von Schuld, Trauer und Reue …
Solche Individuen dürfen als mordgefährdet gelten, da sie entweder ein Übermaß an aggressiver Energie besitzen oder ihre Ichkontrolle derart gestört ist, dass sich diese Energie bisweilen ungehindert und auf geradezu archaische Art und Weise Bahn bricht. Die latente Mordbereitschaft kann aktiviert werden, besonders wenn bereits ein Ungleichgewicht vorliegt und das potenzielle Opfer unbewusst als Schlüsselfigur in einer zurückliegenden traumatischen Konstellation begriffen wird. Durch das Verhalten oder schon die bloße Gegenwart dieser Figur verschiebt sich das ohnehin labile Kräftegleichgewicht, was eine plötzliche Entladung extremer Gewalt zur Folge hat, ähnlich der durch die Zündkapsel ausgelösten Explosion einer Dynamitladung … Die Hypothese von der unbewussten Motivation erklärt, weshalb die Mörder sich von harmlosen und ihnen weitgehend unbekannten Opfern provoziert fühlten und sie folglich als geeignete Objekte der Aggression wahrnahmen. Doch warum Mord? Die meisten Menschen reagieren zum Glück selbst dann nicht mit tödlicher Gewalt, wenn sie aufs Äußerste gereizt werden. Die beschriebenen Fälle hingegen litten unter erheblichem Realitätsverlust und einem extremen Mangel an Triebkontrolle in Zeiten erhöhter Anspannung und Desorganisation. In solchen Phasen konnte selbst eine Zufallsbekanntschaft oder ein Fremder ohne weiteres seine ›reale‹ Bedeutung verlieren und zu einer Figur in der unbewussten traumatischen Konstellation werden. Der ›alte‹ Konflikt wurde reaktiviert, und die Aggression nahm rasch tödliche Ausmaße an … Solch sinnlose Morde stehen im Allgemeinen am Ende einer Phase wachsender Anspannung und Desorganisation, die ihren Höhepunkt in dem Moment erreicht, da der Mörder auf sein Opfer trifft, das, weil es in das unbewusste Konfliktschema des Mörders passt, ungewollt dessen latente Mordbereitschaft aktiviert.«
Angesichts der zahlreichen Übereinstimmungen in puncto Vorgeschichte und Persönlichkeit hat Dr. Satten keinerlei Bedenken, Perry Smith mit den Objekten seiner Studie in eine Reihe zu stellen. Zudem scheinen ihm die Tatumstände exakt in das Konzept vom »Mord ohne ersichtliches Motiv« zu passen. Zwar waren drei der von Smith begangenen Morde ohne Zweifel logisch motiviert– Nancy, Kenyon und ihre Mutter musste er töten, weil er Mr. Clutter getötet hatte. Psychologisch relevant ist laut Dr. Satten jedoch nur der erste Mord, denn seiner Ansicht nach war Smith, als er Mr. Clutter attackierte, geistig umnachtet, gefangen im Dunkel der Schizophrenie, und es war nicht bloß ein Mensch aus Fleisch und Blut, dem er das Leben nahm,
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