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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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wurde während des Bürgerkrieges erbaut und hieß seinen ersten Gast im Jahre 1864 willkommen. Heutzutage beherbergt es im Durchschnitt etwa zweitausend Gefangene, über die der derzeitige Direktor Sherman H. Crouse eine nach Rassen gegliederte Tagesliste führt (zum Beispiel Weiße: 1405, Farbige: 360, Mexikaner: 12, Indianer: 6). Alle Häftlinge sind, ungeachtet ihrer Rasse, Bewohner des steinernen, hinter den hohen, von Maschinengewehrposten bewachten Gefängnismauern gelegenen Dorfes – ein gesichtsloses, knapp fünf Hektar großes Areal, durchzogen mit asphaltierten, von Zellenblocks und Werkstätten gesäumten Straßen.
    Im Südteil des Gefängnishofes steht ein kurios anmutendes kleines Gebäude: ein dunkler, zweistöckiger Bau, der vom Grundriss her an einen Sarg erinnert. Der offiziell als Isolierblock bezeichnete Komplex ist so etwas wie ein Gefängnis im Gefängnis. Die Insassen nennen den unteren Stock »das Loch« – es dient der zeitweiligen Absonderung schwieriger Gefangener, »unverbesserlicher« Unruhestifter. In den oberen Stock gelangt man über eine eiserne Wendeltreppe; an ihrem Ende liegt der Todestrakt.
    Es war ein regnerischer Aprilnachmittag, als die Clutter-Mörder die Treppe das erste Mal hinaufstiegen. Als sie, nach acht Stunden Fahrt aus dem vierhundert Meilen entfernten Garden City, in Lansing eingetroffen waren, hatten sich die Neuankömmlinge zunächst entkleiden und duschen müssen; dann wurden ihnen die Haare kurzgeschoren, und sie bekamen derbe Drillichuniformen und die (für männliche Gefangene in den meisten amerikanischen Vollzugsanstalten vorgeschriebenen) Filzschuhe ausgehändigt. Schließlich geleitete sie eine bewaffnete Eskorte durch die regenfeuchte Dämmerung zu dem sargähnlichen Bau, stieß sie die Wendeltreppe hinauf und in zwei der zwölf nebeneinander liegenden Zellen, die den Todestrakt von Lansing bilden.
    Die Zellen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie sind zwei mal drei Meter groß und unmöbliert, bis auf eine Pritsche, eine Toilette, ein Waschbecken und eine Glühbirne an der Decke, die Tag und Nacht brennt. Die Zellenfenster sind sehr schmal und nicht nur vergittert, sondern obendrein mit einem Maschendraht versehen, der schwarz ist wie ein Witwenschleier, sodass Passanten die Gesichter der zum Tode Verurteilten nur schemenhaft erkennen können. Die Todeskandidaten hingegen können sehr wohl nach draußen sehen; was sie sehen, ist ein leerer, unbefestigter Platz, der im Sommer als Baseballfeld dient, dahinter ein Stück Gefängnismauer und darüber ein Stück Himmel.
    Die Mauer besteht aus unbehauenen Steinen; in den Spalten nisten Tauben. Eine rostige, in die Mauer eingelassene Eisentür, die von den Todeszellen aus gut sichtbar ist, schreckt die Tauben hoch und scheucht sie auf, wenn sie geöffnet wird, weil sie so laut in den Angeln quietscht, ja kreischt. Die Tür führt in einen höhlenartigen Lagerraum, wo es selbst an den wärmsten Tagen feucht und kühl ist. Hier werden neben den Blechen, aus denen die Gefangenen Autokennzeichen herstellen, auch Bauholz, alte Maschinenteile und die anstaltseigene Baseballausrüstung aufbewahrt – sowie ein grob gezimmerter Galgen, der schwach nach Fichte riecht. Denn dies ist die staatliche Hinrichtungskammer; wenn jemand hierhergebracht wird, um gehängt zu werden, sagen die Gefangenen, er sei »in die Ecke gegangen« oder auch, er habe »dem Lager einen Besuch abgestattet«.
    Gemäß dem Urteil des Gerichts sollten Smith und Hickock dem Lager in sechs Wochen einen Besuch abstatten: eine Minute nach Mitternacht am Freitag, den 13.Mai 1960.
     
    Kansas schaffte die Todesstrafe 1907 ab; weil im Mittleren Westen jedoch plötzlich eine Reihe von Berufsverbrechern (Alvin »Old Creepy« Karpis, Charles »Pretty Boy« Floyd, Clyde Barrow und seine gemeingefährliche Geliebte Bonnie Parker) ihr Unwesen trieb, beschlossen die Gesetzgeber 1935 ihre Wiedereinführung. Der Henker bekam allerdings erst 1944 Gelegenheit, sein Handwerk auszuüben; in den folgenden zehn Jahren durfte er neun weitere Male seinen Dienst verrichten. Doch seit sechs Jahren, also seit 1954, hatte in Kansas kein Henker mehr in Lohn und Brot gestanden (außer in den Army and Air Force Disciplinary Barracks, die ebenfalls über einen Galgen verfügen). Verantwortlich für diese Unterbrechung war der verstorbene George Docking, von 1957 bis 1960 Gouverneur von Kansas, ein uneingeschränkter Gegner der Todesstrafe (»Ich bringe einfach nur ungern

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