Kaltblütig
eines Zuges, die Fanfare des nahenden Santa Fe Express, hallte durch den Sitzungssaal. Tates Bassstimme vermischte sich mit dem Jaulen der Lokomotive, als er las: »Anklagepunkt 1. Wir, die Geschworenen, befinden den Angeklagten Richard Eugene Hickock des vorsätzlichen Mordes für schuldig und verurteilen ihn zum Tode.« Dann, als wollte er ihre Reaktion ergründen, blickte er auf die Gefangenen hinunter, die, mit Handschellen gefesselt und flankiert von zwei Gefängniswärtern, vor ihm standen; sie starrten ausdruckslos zurück, bis er fortfuhr und die anderen sieben Anklagepunkte verlas: drei weitere Schuldsprüche für Hickock, vier für Smith.
»… und verurteilen ihn zum Tode«; immer, wenn er zu diesem Satz kam, artikulierte Tate ihn mit dunkler, hohl tönender Stimme, in der das klagende Pfeifen des dahineilenden Zuges nachzuklingen schien. Dann entließ er die Geschworenen (»Sie haben eine mutige Entscheidung gefällt«), und die Verurteilten wurden abgeführt. An der Tür sagte Smith zu Hickock: »Feige waren sie jedenfalls nicht.« Beide lachten laut, und ein Reporter fotografierte sie. Das Bild erschien in einem Regionalblatt mit der Unterschrift: »Zuletzt gelacht?«
Eine Woche später saß Mrs. Meier in ihrem Wohnzimmer und unterhielt sich mit einer Freundin. »Ja, es ist still geworden hier«, sagte sie. »Eigentlich müssten wir dankbar sein, dass sich die Aufregung gelegt hat.
Trotzdem bedrückt es mich. Mit Dick hatte ich ja kaum etwas zu tun, aber Perry und ich sind uns im Lauf der Zeit recht nahe gekommen. An dem Nachmittag, als das Urteil verkündet worden war und sie ihn hier heraufbrachten – da habe ich mich in meiner Küche eingeschlossen, damit ich ihn nicht sehen musste. Ich saß am Küchenfenster und sah zu, wie die Leute das Gericht verließen. Mr. Cullivan – er schaute zu mir hoch und winkte. Die Hickocks. Alle gingen sie weg. Heute Morgen erst habe ich von Mrs. Hickock einen lieben Brief bekommen; sie hat mich während der Verhandlung ein paarmal besucht, und ich wollte, ich hätte ihr helfen können, nur was soll man einem Menschen in einer solchen Lage sagen? Aber als alle weg waren und ich mich an den Abwasch machte – da hörte ich ihn weinen. Ich stellte das Radio an. Damit ich ihn nicht hören musste. Aber ich hörte ihn trotzdem.
Er weinte wie ein kleines Kind. Er hatte sich die ganze Zeit wacker gehalten, sich nicht das Geringste anmerken lassen. Da ging ich zu ihm hinein. Trat vor seine Zellentür. Und er streckte die Hand durchs Gitter. Er bat mich, sie zu halten, ich tat ihm den Gefallen, ich hielt seine Hand, und er sagte nur: ›Ich schäme mich zu Tode.‹
Ich wollte Father Goubeaux holen – ich sagte, morgen koche ich Ihnen spanischen Reis –, aber er umklammerte nur meine Hand.
Und ausgerechnet an diesem Abend mussten wir ihn allein lassen. Wendle und ich gehen fast nie aus, aber die Verabredung stand schon seit Wochen fest, und Wendle meinte, wir könnten unmöglich absagen. Aber es wird mir ewig leidtun, dass wir ihn allein gelassen haben. Am nächsten Tag kochte ich ihm seinen Reis. Aber er rührte ihn nicht an. Und sprach kaum ein Wort mit mir. Er hasste die ganze Welt. Aber an dem Morgen, als er ins Zuchthaus überführt wurde, bedankte er sich bei mir und schenkte mir ein Bild von sich. Ein kleines Foto, das ihn als Sechzehnjährigen zeigte. Er sagte, so soll ich ihn in Erinnerung behalten, als den Jungen auf dem Bild.
Der Abschied war schrecklich. Schließlich wusste ich, wohin er ging und was ihm bevorstand. Auch seinem Eichhörnchen fehlt er. Es kommt noch immer in die Zelle und wundert sich, dass er nicht da ist. Ich habe versucht, es zu füttern, aber es will nichts von mir wissen. Es mochte eben nur Perry.«
Der Strafvollzug ist im Leavenworth County, Kansas, einer der bedeutendsten Wirtschaftsfaktoren. Hier befinden sich die beiden Staatsgefängnisse, eins für Männer, eins für Frauen; außerdem Leavenworth, das größte Bundesgefängnis, und, in Fort Leavenworth, das wichtigste Militärgefängnis, die furchterregenden United States Army and Air Force Disciplinary Barracks. Würde man sämtliche Insassen dieser Anstalten freilassen, könnte man mit ihnen eine kleine Stadt bevölkern.
Das älteste dieser Gefängnisse ist das Kansas State Penitentiary für Männer, ein mit Türmen und Zinnen bewehrter Palast aus schwarzweißem Backstein und so etwas wie das Wahrzeichen von Lansing, einer sonst eher unscheinbaren ländlichen Gemeinde. Es
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