Kaltblütig
wöchentlich; er goutierte Schund ebenso wie Schöngeistiges, und er liebte Lyrik, insbesondere Robert Frost, schätzte aber auch Whitman, Emily Dickinson und die komischen Gedichte Ogden Nashs.
Nachdem die Bestände der Gefängnisbibliothek seinem unstillbaren Lesehunger zum Opfer gefallen waren, versorgten der Gefängniskaplan und andere Wohlmeinende ihn regelmäßig mit Paketen aus der Stadtbibliothek von Kansas City.
Auch Dick war ein ziemlicher Bücherwurm; doch sein Interesse beschränkte sich auf zwei Themen – Sex, wie in den Romanen von Harold Robbins und Irving Wallace (nachdem Dick ihm einen davon geliehen hatte, gab Perry ihn zurück mit der entrüsteten Notiz: »Perverser Dreck für dreckige Perverse!«), und juristische Fachliteratur. Er blätterte täglich stundenlang in Gesetzestexten und stellte daraus ein Dossier zusammen, mit dessen Hilfe er eine Aufhebung seines Urteils zu erreichen hoffte. Zum gleichen Zweck bombardierte er Organisationen wie die Amerikanische Bürgerrechtsunion und die Anwaltskammer des Staates Kansas mit Briefen, in denen er seinen Prozess als »Karikatur eines rechtmäßigen Verfahrens« kritisierte und die Empfänger drängte, ihn in seinem Bemühen zu unterstützen, eine Wiederaufnahme des Falles zu erwirken. Er überredete Perry, ähnliche Petitionen aufzusetzen, doch als er Andy vorschlug, es ihnen nachzutun und Protestschreiben in eigener Sache zu verfassen, antwortete Andrews: »Kümmert ihr euch um euren Hals, ich kümmere mich um meinen.« (Dabei machte ein anderer Körperteil Dick weitaus größere Sorgen als sein Hals. »Die Haare gehen mir büschelweise aus«, verriet er in einem weiteren Brief an seine Mutter.
»Ich werde wahnsinnig. Soweit ich mich erinnern kann, hatte in unserer Familie niemand eine Glatze, und die Vorstellung, ein hässlicher alter Glatzkopf zu werden, macht mich wahnsinnig.«)
Als die beiden Wärter der Nachtschicht eines Abends im Herbst 1961 ihren Dienst im Todestrakt antraten, brachten sie Neuigkeiten mit. »Tja«, verkündete der eine, »sieht ganz so aus, als ob ihr demnächst Gesellschaft kriegt.« Seine Zuhörer wussten, was er damit sagen wollte: Die beiden jungen Soldaten, die wegen Mordes an einem Eisenbahnarbeiter aus Kansas vor Gericht gestanden hatten, waren zur Höchststrafe verurteilt worden.
»Jawoll«, bestätigte der Wärter, »sie haben die Todesstrafe kassiert.« Dick sagte: »Logisch. Die ist in Kansas sehr beliebt. Die Geschworenen gehen damit so großzügig um wie ein Schokoladenonkel, der Bonbons verteilt.«
Die beiden Soldaten George Ronald York und James Douglas Latham waren achtzehn und neunzehn Jahre alt und von außerordentlich angenehmem Äußeren, weshalb ihre Verhandlung Horden von halbwüchsigen Mädchen angezogen hatte. Sie waren zwar nur wegen eines Mordes verurteilt worden, hatten auf ihrem Streifzug quer durchs ganze Land jedoch im Ganzen sieben Menschen umgebracht.
Ronnie York, blond und blauäugig, war in Florida geboren und aufgewachsen, als Sohn eines bekannten, hochbezahlten Tiefseetauchers. Die Yorks führten ein äußerst komfortables Leben, und Ronnie, der von seinen Eltern und seiner ihn anbetenden jüngeren Schwester mit Lob und Liebe förmlich überschüttet wurde, war der bewunderte Mittelpunkt der Familie. Lathams Vorgeschichte war das genaue Gegenteil und ebenso trostlos wie die Perry Smiths. Er stammte aus Texas und war der jüngste Spross fruchtbarer, bettelarmer und zutiefst zerstrittener Eltern, die ihren Nachwuchs, als sie sich schließlich trennten, kurzerhand sich selbst überließen, worauf dieser sich in alle Himmelsrichtungen zerstreute, lästig und entwurzelt wie vom Wind getriebene Steppenhexen. Weil Latham nicht wusste, wo er unterkommen sollte, war er mit siebzehn in die Army eingetreten; zwei Jahre später landete er wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe im Militärgefängnis in Fort Hood, Texas. Dort lernte er Ronnie York kennen, der wegen des gleichen Vergehens einsaß. Zwar hatten sie nicht allzu viel gemeinsam – auch körperlich, York war groß und phlegmatisch, der Texaner hingegen ein etwas zu klein geratener junger Mann mit fuchsschlauen braunen Augen, die ein hübsches, kompaktes kleines Gesicht mit Leben erfüllten –, doch wenigstens in einem Punkt stimmten sie völlig überein: Die Welt war schlecht, und die Menschen, die sie bevölkerten, hatten den Tod verdient. »Die Welt ist verkommen«, sagte Latham. »Und darauf gibt es nur eine Antwort:
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