Kaltblütig
vier Jahre älter als zu der Zeit, da er die Ermittlungen im Clutter-Fall geleitet hatte; aber er war noch immer schlank und agil und noch immer der führende KBI-Agent von West-Kansas; vor einer Woche erst hatte er zwei Viehdiebe gefasst. Sein Traum von einer eigenen Farm hatte sich nicht erfüllt, denn seine Frau fürchtete das Leben in der Einsamkeit wie eh und je. Stattdessen hatten die Deweys in der Stadt ein neues Haus gebaut, auf das sie nicht minder stolz waren als auf ihre beiden Söhne, die den Stimmbruch inzwischen hinter sich hatten und fast genauso groß waren wie ihr Vater. Der Altere sollte im Herbst aufs College gehen.
Als er mit Unkrautjäten fertig war, schlenderte Dewey durch das stille Wegelabyrinth. Vor einem Grabstein blieb er stehen und las den kürzlich eingemeißelten Namen: Tate. Richter Tate war im vergangenen November an einer Lungenentzündung gestorben; Kränze, verdorrte Rosen und vom Regen ausgewaschene Schleifen bedeckten die offene Erde. Ganz in der Nähe schmückten verstreute Blumenblätter einen frisch aufgeworfenen Hügel – das Grab von Bonnie Jean Ashida, der älteren Tochter der Ashidas, die bei einem Besuch in Garden City durch einen Autounfall umgekommen war. Todesfälle, Geburten, Hochzeiten – neulich erst hatte er gehört, dass Nancy Clutters Freund, der junge Bobby Rupp, geheiratet hatte.
Die letzte Ruhestätte der Familie Clutter, vier unter einem grauen Stein vereinte Gräber, liegt in einem abgeschiedenen Friedhofswinkel – hinter den Bäumen, in der Sonne, am hellen Saum des Weizenfeldes. Als Dewey näher kam, sah er, dass dort schon jemand stand: ein gertenschlankes Mädchen in weißen Handschuhen mit glattem, honigdunklem Haar und langen, eleganten Beinen. Sie lächelte ihm zu, und er überlegte, wer sie war.
»Kennen Sie mich nicht mehr, Mr. Dewey? Susan Kidwell.«
Er lachte; sie lachte auch. »Sue Kidwell. Ich werd verrückt.« Er hatte sie seit dem Prozess nicht mehr gesehen; damals war sie noch ein Kind gewesen. »Wie geht’s Ihnen? Wie geht’s Ihrer Mutter?«
»Danke, gut. Sie unterrichtet immer noch Musik an der Holcomb School.«
»In der Gegend bin ich lange nicht gewesen. Hat sich irgendwas verändert?«
»Ach, die Straßen sollen jetzt gepflastert werden. Aber Sie wissen ja, wie das in Holcomb ist. Ich bin übrigens nur noch selten da. Ich studiere jetzt an der K.U.« Sie meinte die University of Kansas. »Ich bin bloß ein paar Tage zu Besuch.«
»Wie schön. Was studieren Sie denn?«
»Alles Mögliche. Hauptsächlich Kunst. Es macht einen Riesenspaß. Ich bin richtig glücklich.« Sie schaute über die Prärie. »Nancy und ich wollten zusammen aufs College gehen. Wir wollten uns ein Zimmer teilen. Manchmal denke ich noch daran. Wenn ich so glücklich bin, muss ich plötzlich an all die Pläne denken, die wir damals geschmiedet haben.«
Dewey betrachtete die vier in den grauen Stein gehauenen Namen und das Datum ihres Todes: 15. November 1959. »Kommen Sie oft hierher?«
»Hin und wieder. Furchtbar, wie die Sonne blendet.« Sie setzte eine dunkle Brille auf. »Erinnern Sie sich noch an Bobby Rupp? Er hat geheiratet, ein schönes Mädchen.«
»Ich hab davon gehört.«
»Colleen Whitehurst. Sie ist wirklich wunderschön. Und obendrein sehr nett.«
»Da hat er aber Glück gehabt.« Und um sie zu necken, setzte Dewey hinzu: »Und wie steht’s mit Ihnen? Sie haben doch bestimmt viele Verehrer.«
»Es geht. Nichts Ernstes. Da fällt mir ein: Wissen Sie, wie spät es ist? – Oh«, stieß sie hervor, als er ihr sagte, es sei kurz nach vier. »Dann muss ich jetzt los. Aber es hat mich gefreut, dass wir uns mal wiedergesehen haben, Mr. Dewey.«
»Mich auch, Sue. Alles Gute«, rief er ihr nach, als sie davonlief, ein hübsches Mädchen in Eile, mit fliegendem, funkelndem Haar – eine junge Frau, wie auch Nancy eine hätte werden können. Dann machte er sich auf den Heimweg, unter den Bäumen hindurch, und ließ den weiten Himmel hinter sich, das Wispern des Windes im wogenden Weizen.
E N D E
DANKSAGUNG
Sämtliches Material zu diesem Buch, das nicht auf eigener Anschauung beruht, entstammt entweder den Akten der ermittelnden Behörden oder ist das Ergebnis von zahlreichen persönlichen Gesprächen mit den unmittelbar Betroffenen, Gesprächen, die sich nicht selten über Wochen und Monate erstreckten. Da diese »Mitarbeiter« im Text namentlich genannt werden, wäre es müßig, sie hier aufzuzählen;
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