Kaltblütig
nicht.
Aber es war nicht halb so schlimm, wie ich dachte. Wie ein Sprung vom Sprungbrett. Nur eben mit einer Schlinge um den Hals.«
»Die spüren nichts. Bumm, zack, und fertig. Die spüren nichts.«
»Sind Sie sicher? Ich stand ganz in der Nähe. Ich habe ihn deutlich nach Luft schnappen hören.«
»Mag sein, aber gespürt hat er nichts. Das wäre ja sonst auch unmenschlich.«
»Hm. Außerdem werden sie doch bestimmt mit Tabletten vollgestopft. Beruhigungsmittel.«
»Von wegen. Das ist gegen die Vorschriften. Da kommt Smith.«
»Mensch, ich wusste ja gar nicht, dass der so ein Knirps ist.«
»Ja, er ist klein. Aber das sind Taranteln auch.«
Als er hereingeführt wurde, erkannte Smith seinen alten Widersacher Dewey; er hörte auf, seinen Doublemint-Kaugummi zu kauen, und zwinkerte Dewey keck und schelmisch grinsend zu. Doch als ihn der Direktor fragte, ob er noch etwas sagen wolle, wurde er ernst. Seine sensiblen Augen blickten feierlich in die Gesichter ringsum, wanderten erst zu dem schattenhaften Henker hinauf und dann hinab zu seinen gefesselten Händen. Er betrachtete seine Finger, die mit Tinte und Farbe besudelt waren, weil er seine letzten drei Jahre in der Todeszelle damit verbracht hatte, Selbstporträts und Bilder von Kindern zu malen, hauptsächlich von den Kindern seiner Mitgefangenen, nach Fotografien ihrer Sprösslinge, die sie nur selten zu Gesicht bekamen. »Ich finde es ungeheuerlich, einen Menschen auf diese Art zu töten«, sagte er. »Ich bin gegen die Todesstrafe, moralisch und rechtlich. Vielleicht hätte ich etwas beitragen können, etwas …« Ihn verließ der Mut; Scheu erstickte seine Stimme, dämpfte sie fast bis zur Unhörbarkeit. »Es wäre sinnlos, für das, was ich getan habe, um Verzeihung zu bitten. Wenn nicht gar unangemessen. Trotzdem tue ich es. Ich bitte um Verzeihung.« Stufen, Schlinge, Augenbinde; aber bevor man ihm die Binde anlegte, spuckte der Gefangene seinen Kaugummi in die ausgestreckte Hand des Kaplans. Dewey schloss die Augen; er hielt sie geschlossen, bis er das dumpfe Knacken hörte, das ihm verriet, dass der Strick Smith das Genick gebrochen hatte.
Wie die meisten amerikanischen Gesetzeshüter war auch Dewey von der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe überzeugt, und wenn es einen Fall gab, in dem sie ihm gerechtfertigt erschien, dann war es dieser. Die vorangegangene Hinrichtung hatte ihn kalt gelassen; er hatte nie viel für Hickock übriggehabt, den er für einen »dummen, nichtsnutzigen kleinen Ganoven« hielt, der sich »übernommen« hatte. Doch obwohl er der eigentliche Mörder war, rief Smith eine ganz andere Reaktion in ihm hervor, denn Perry besaß eine Eigenschaft – die Aura eines Ausgestoßenen, eines verwundeten Tieres – die der Detective nicht einfach ignorieren konnte. Dewey dachte an seine erste Begegnung mit Perry in einem Verhörraum des Polizeipräsidiums von Las Vegas – der zwergenhafte Kindmann auf dem Metallstuhl, dessen kleine, gestiefelte Füße kaum den Boden berührten. Und genau das sah Dewey, als er jetzt die Augen öffnete: dieselben Kinderfüße, leblos, baumelnd.
Dewey hatte sich eingebildet, der Tod von Smith und Hickock werde ihm eine Art Höhepunkt, Erleichterung verschaffen, als habe sich ein Plan gerecht erfüllt. Stattdessen musste er an ein knapp ein Jahr zurückliegendes Ereignis denken, eine zufällige Begegnung auf dem Valley View Cemetery, mit dem der Fall für ihn, rückblickend betrachtet, mehr oder minder abgeschlossen gewesen war.
Die Pioniere, die Garden City gründeten, waren ein notgedrungen spartanischer Menschenschlag, doch als es an der Zeit war, einen Friedhof anzulegen, beschlossen sie, trotz des trockenen Bodens und erheblicher Bewässerungsprobleme einen fruchtbaren Kontrast zu den staubigen Straßen, den kargen Ebenen der Prärie zu schaffen. Das Ergebnis, das sie auf den Namen Valley View tauften, liegt auf einem mäßig erhöhten Plateau über der Stadt. Heutzutage gleicht der Friedhof einer dunklen Insel, umspült von der rollenden Brandung der umliegenden Weizenfelder – willkommene Zuflucht an heißen Tagen, denn hier gibt es viele kühle, von hundert Jahre alten Bäumen überdachte Wege.
Eines Nachmittags im vorigen Mai, einem Monat, in dem die Felder im grüngoldenen Glanz reifenden Weizens erstrahlen, hatte Dewey hier mehrere Stunden damit verbracht, das Grab seines Vaters vom Unkraut zu befreien, eine Pflicht, die er allzu lange vernachlässigt hatte. Dewey war einundfünfzig,
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