Kaltblütig
rahmte es mit meinen Händen ein. Dadurch wurde aus diesem Detail die Essenz der ganzen Landschaft, das in prismenartiger Verkleinerung die wahre Atmosphäre eines ganzen Panoramas wiedergab, das viel zu groß war, um es als Ganzes zu begreifen. Oder ich war in einem unbekannten Zimmer und wollte das Zimmer und seine Bewohner verstehen, dann wählte ich ebenfalls irgendein einzelnes Element aus – das konnte ein Lichtstrahl sein, ein altersschwaches Klavier oder das Muster im Teppich –, das für mich das Geheimnis des Ganzen enthielt. Jede Kunst setzt sich aus derart ausgewählten Details zusammen, die entweder der Imagination entstammen oder, wie in Kaltblütig, ein Destillat der Wirklichkeit sind. Der Film wiederum destillierte seine Wirklichkeit aus meinem Buch, war also das Destillat des Destillats und damit noch ein Stück reiner und wahrer.
Kurz nach Erscheinen von Kaltblütig gab es die ersten Anfragen bezüglich einer Verfilmung. Ich selbst hatte bereits beschlossen, dass der Drehbuchautor und Regisseur Richard Brooks in diesem Fall die Funktion eines Vermittlers zwischen Buch und Leinwand übernehmen sollte. Ich schätzte ihn nicht nur wegen seiner professionellen Art, in Bildern zu denken, er war auch der einzige Regisseur, der riskieren wollte, mein Konzept zu übernehmen, also erstens den Film in Schwarzweiß zu drehen und zweitens nur unbekannte Schauspieler zu nehmen, das heißt Leute, deren Gesichter noch nicht im öffentlichen Bewusstsein waren. Obwohl wir sonst völlig unterschiedlich ticken, wollten wir doch beide, dass der Film die Realität gleichsam duplizierte. Die Schauspieler sollten ihren realen Vorbildern so ähnlich wie irgend möglich sein, und der ganze Film sollte an Originalschauplätzen gedreht werden: im Haus der ermordeten Familie Clutter, in dem Gemischtwarenladen, in dem Perry und Dick das Seil und das Klebeband gekauft hatten, womit sie ihre vier Opfer später fesselten. Dasselbe bei Gerichtssälen, Gefängniszellen, Tankstellen, Hotelzimmern, Straßen und Highways. Alles, was sie vor, während und nach ihrer Tat gesehen hatten, würde auch im Film zu sehen sein. Ein kompliziertes Vorhaben, aber der einzig gangbare Weg, wenn nicht die Phantasie, sondern allein die Reflexe der Realität die beherrschende Kraft dieses Films sein sollten.
Besonders fühlbar wurde dies, als ich vor den Dreharbeiten mit Brooks das Haus der Clutters besuchte, in dem die Mordszene spielte. Um nochmals aus meinem Tagebuch zu zitieren: »War den ganzen Nachmittag auf der Clutter-Farm. Ein eigenartiges Gefühl, wieder in dem Haus zu stehen, in dem ich schon so oft gewesen bin, vor allem da jetzt alles so still war. Das stille Haus, die nüchternen Zimmer, die Bodendielen, auf denen jeder Schritt nachhallte, die Fenster mit Blick auf die Prärie und die braunen Stoppelfelder. Seit dem Mord an dieser Familie hat praktisch niemand mehr hier gewohnt. Das Land wurde von einem Farmer aus Texas gekauft, der es auch bewirtschaftet. Ab und zu wohnt sein Sohn hier. Das Haus ist noch keine Ruine, aber alles wirkt so verlassen wie eine Vogelscheuche ohne Krähen, die sie erschrecken könnte. Der gegenwärtige Besitzer gab Brooks die Erlaubnis, hier zu drehen, viele der alten Möbel waren noch da, und was fehlte, hat Tom Shaw, Brooks’ rechte Hand, in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammengetragen. Die Zimmer sahen genauso aus wie im Dezember 1959, kurz nach dem Mord, als ich sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Mr. Clutters Stetson hing am Haken der Garderobe.
Nancys Noten standen auf dem Notenhalter. Und auf der Kommode lag die Brille ihres Bruders schimmernd im Sonnenlicht.
Auch diesmal suchte ich einen Bildausschnitt aus, der für mein Gefühl alles zusammenfasste. Es waren die Jalousien in Mr. Clutters Büro, durch das die Mörder ins Haus eingedrungen waren. Dort hatte Dick zuerst die Lamellen auseinandergebogen, um festzustellen, ob sich draußen in der mondhellen Nacht irgendwelche Zeugen aufhielten, und dann noch einmal beim Verlassen des Hauses. Die vier Schüsse aus der Schrotflinte waren unglaublich laut gewesen, und mit klopfendem Herzen peilte Dick die Lage, denn der Lärm hatte womöglich die ganze Gegend aufgeweckt. Und jetzt ist der Schauspieler, der Dick spielt und der ihm geradezu unheimlich ähnlich sieht, im Begriff, das alles ein zweites Mal zu tun. Seit dem Mord sind acht Jahre vergangen, die Clutter-Familie existiert nicht mehr, auch Dick ist tot, aber die Jalousien in diesem Haus
Weitere Kostenlose Bücher