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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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sollten. Hunderte Menschen harrten stundenlang bei Dunkelheit und Minustemperaturen auf dem Vorplatz aus, schweigsam, beinahe ehrfürchtig. Presse aus dem gesamten Westen und Mittelwesten war vertreten, sogar etliche Fernsehteams waren vor Ort.
    Ja, sagte ich ihm, ich sei da gewesen und hätte mir dabei sogar eine leichte Lungenentzündung geholt. Er bedauerte das: »Mit Lungenentzündung ist nicht zu spaßen.
    Aber sagen Sie … ich hatte so viel Angst, dass ich kaum etwas mitgekriegt habe, ich dachte erst, die Leute reißen uns in Stücke. Ich meine, wozu auch auf den Henker warten, wo man das gleich an Ort und Stelle erledigen kann, oder? Wäre wahrscheinlich sogar besser gewesen, ich meine, was soll der ganze Zirkus noch, die Verhandlung und das alles? Sowieso eine einzige Farce, diese primitiven Bauern wollen uns hängen sehen, das ist mal klar.« Er biss sich auf die Unterlippe und machte ein unschlüssig verlegenes Gesicht, wie ein Kind, das mit dem Zeh etwas in den Boden malt. »Was mich interessieren würde: Waren auch Vertreter der Filmindustrie zugegen?«
    Solche gestelzten Formulierungen waren typisch für Perry – die »Filmindustrie« war »zugegen«. Und auch die Eitelkeit dahinter, die jede öffentliche Aufmerksamkeit – und sei es in Form nackter Sensationslust – gierig aufsog.
    Er versuchte, dieses narzisstische Motiv mit einem Achselzucken zu kaschieren, war aber trotzdem merklich erleichtert, als ich ihm versicherte, dass tatsächlich mehrere Filmkameras auf ihn gerichtet waren.
    Jetzt, sieben Jahre später, kam mir dieser Moment komisch vor, dennoch ging ich auf Brooks’ Frage nicht ein, weil die jungen Schauspieler in der Nähe waren, welche die Rollen von Perry und Dick spielten. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich ohnehin unwohl, unwohl und wie durchschaut. Zwar hatte ich Fotos von ihnen gesehen (Robert Blake als »Perry«, Scott Wilson als »Dick«), ehe sie für die Rolle ausgesucht wurden, aber erst bei den Dreharbeiten in Kansas traf ich sie persönlich. Und diese Begegnung und überhaupt ihre Gegenwart war etwas, das ich kein zweites Mal erleben möchte. Das ist nichts Persönliches, beide sind ernsthafte, einfühlsame, begabte Schauspieler. Doch ihre Casting-Fotos hatten mich – trotz der großen Ähnlichkeit mit ihren realen Vorbildern – nicht im Geringsten darauf vorbereitet, welche hypnotische Wirkung von dieser zweiten Wirklichkeit ausgehen sollte.
    Das gilt besonders für Robert Blake. Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, ein Geist, ein Geist mit schwarz glänzenden Haaren und diesem müden Blick sei in mein Leben getreten. Ich wollte nicht wahrhaben, dass Blake nur jemand war, der Perry lediglich spielte, für mich war er Perry – ein Gefühl wie ein Sturz in einen Aufzugschacht. Da waren sie, die wohlvertrauten Augen in dem bekannten Gesicht, die mich wie immer distanziert musterten. Mir schien, als sei Perry von den Toten auferstanden, aber aufgrund eines Gedächtnisverlustes nicht in der Lage, sich an mich zu erinnern. Vor Schreck, Frustration und Hilflosigkeit, kombiniert mit einer beginnenden Grippe, floh ich in mein Motel am Rand von Garden City.
    Im Wheat Lands Motel war ich in den Jahren, in denen ich an Kaltblütig arbeitete, oft abgestiegen, und dort stürzten sogleich die alten Bilder auf mich ein. All die Erinnerungen an endlose Winterabende und das Husten einsamer Handelsvertreter im Zimmer nebenan, sie rissen mich mit wie ein Kansas-Tornado und warfen mich aufs Krankenlager.
    Ich zitiere aus meinem Tagebuch: »Innerhalb von dreißig Minuten einen halben Liter Whiskey getrunken und davon glatt weggesackt. Am Morgen mit Fieber aufgewacht, der Fernseher lief noch, aber in meinem Kopf war alles leer. Ich wusste nicht mal, wo ich war oder warum ich hier war. Alles irreal, weil viel zu real, wie das bei den Reflexen der Realität oft der Fall ist. Dann Dr. Maxfield angerufen, der mir eine Spritze gab und mehrere Rezepte.
    Aber das Problem liegt im Kopf (?).«
    Der Begriff »Reflex der Realität« erklärt sich eigentlich von selbst, aber vielleicht sollte ich mein persönliches Verständnis davon trotzdem kurz erläutern. Reflektierte Realität ist die Essenz der Realität, sozusagen ihre wahrere Wahrheit. Als Kind habe ich mich oft mit einer Art Bilderspiel beschäftigt. Wenn ich zum Beispiel eine Landschaft sah mit Bäumen, Wolken und Pferden auf der Weide, dann suchte ich mir irgendeine Einzelheit, sagen wir ein Stück Gras, das sich im Wind bewegte, und

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