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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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ist es, hier ist es, das muss es sein, da ist die Schule, da die Werkstatt, und da vorne müssen wir links ab.« Für Perry klang Dicks Gequassel beinahe wie eine Beschwö rungsformel. Sie verließen den Highway, rasten durch das menschenleere Holcomb und überquerten die Eisenbahngeleise. »Die Bank, das muss die Bank sein, jetzt nochmal links – siehst du die Bäume? Das ist es, das muss es sein.«
    Die Scheinwerfer erhellten eine ulmengesäumte Auffahrt; der Wind trieb Distelbüschel darüber hinweg. Dick schaltete das Licht aus, ging vom Gas und hielt, bis seine Augen sich an die mondbeschienene Nacht gewöhnt hatten. Dann fuhr der Wagen langsam wieder an.
     
    Holcomb liegt zwölf Meilen östlich der Mountain-Time-Zeitzonengrenze, was mitunter für Unmut sorgt, weil es um sieben, im Winter zuweilen sogar nach acht Uhr morgens noch dunkel ist und die Sterne, falls vorhanden, noch am Himmel stehen – und so war es auch heute, als Vic Irsiks Söhne zu ihrer sonntagmorgendlichen Milchrunde aufbrachen. Doch gegen neun, als die beiden Jungen mit ihrer Arbeit fertig waren – bei der sie nichts Ungewöhnliches bemerkt hatten –, war die Sonne aufgegangen und brachte einen neuen, zur Fasanenjagd geradezu idealen Tag. Als sie das Grundstück verließen und die Auffahrt hinunterrannten, winkten sie einem entgegenkommenden Auto, und ein Mädchen winkte zurück. Es war eine Klassenkameradin Nancy Clutters, die ebenfalls Nancy hieß – Nancy Ewalt. Sie war das einzige Kind des Mannes, der am Steuer des Wagens saß, Mr. Clarence Ewalt, ein Zuckerrübenfarmer in mittleren Jahren. Obwohl weder Mr. Ewalt noch seine Frau Kirchgänger waren, brachte er seine Tochter jeden Sonntag zur River Valley Farm, damit sie die Clutters zum methodistischen Gottesdienst in Garden City begleiten konnte.
    Auf diese Weise ersparte er sich die Mühe, »zweimal in die Stadt und wieder zurück fahren zu müssen«. Gewöhnlich wartete er, bis seine Tochter im Haus verschwunden war. Nancy Ewalt, ein modebewusstes Mädchen mit Filmstarfigur, Brille und geziertem Gang, als liefe sie auf Zehenspitzen, überquerte den Rasen und klingelte an der Vordertür. Das Haus hatte vier Eingänge, und als auch auf ihr wiederholtes Klopfen niemand reagierte, ging sie weiter zum nächsten, der in Mr. Clutters Büro führte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen; sie stieß sie etwas weiter auf – das leere Zimmer lag in tiefem Schatten –, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass die Clutters es gutheißen würden, wenn sie »einfach so hereinplatzte«. Sie klopfte, klingelte und ging schließlich zur Rückseite des Hauses. Ihr fiel auf, dass beide Autos in der Garage standen: zwei Chevrolet-Limousinen. Die Clutters mussten also zu Hause sein. Als sie es jedoch auch an einer dritten Tür, durch die man in die »Waschküche« gelangte, sowie an einer vierten, der Küchentür, versucht hatte, ohne Erfolg, kehrte sie zurück zu ihrem Vater, der sagte:
    »Vielleicht liegen sie ja noch im Bett.«
    »Ausgeschlossen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Mr. Clutter den Gottesdienst verschläft!«
    »Dann komm. Wir fahren zum Lehrerhaus. Susan weiß bestimmt, was los ist.«
    Das gleich gegenüber der modernen Schule gelegene Lehrerhaus ist ein altmodisches Gebäude, grau und von überwältigender Hässlichkeit. Die gut zwanzig Zimmer sind in Sozialwohnungen unterteilt und jenen Mitgliedern des Lehrkörpers vorbehalten, die keine andere Unterkunft finden oder bezahlen können. Susan Kidwell und ihrer Mutter war es trotz alledem gelungen, sich die bittere Pille zu versüßen und ihrer Dreizimmer-Parterrewohnung eine gemütliche Atmosphäre zu verleihen. Kaum zu glauben, aber das winzige Wohnzimmer beherbergte – neben diversen Sitzgelegenheiten – eine Orgel, ein Klavier, einen blühenden Topfblumengarten sowie einen kregelen kleinen Hund und eine große, schläfrige Katze.
    An diesem Sonntagmorgen stand Susan am Fenster und sah auf die Straße. Susan ist eine hochgewachsene, leicht entrückte junge Dame mit blassem, ovalem Gesicht, wunderschönen hellen, blaugrauen Augen und außergewöhnlichen Händen – lange, schmale Finger, biegsam, von nervöser Eleganz. Sie hatte sich für die Kirche feingemacht und wartete ungeduldig auf den Chevrolet der Clutters, da auch sie den Gottesdienst stets in Begleitung der Familie Clutter besuchte. Stattdessen kamen die Ewalts und erzählten ihre seltsame Geschichte.
    Doch Susan konnte sich das nicht erklären, ebenso wenig wie ihre

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