Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
Vom Netzwerk:
Mutter: »Wenn ihnen etwas dazwischengekommen wäre, hätten sie uns bestimmt Bescheid gegeben. Susan, ruf doch rasch mal an. Wer weiß, vielleicht haben sie ja doch verschlafen?«
    »Und das habe ich denn auch getan«, gab Susan später zu Protokoll. »Ich habe ihre Nummer gewählt und es klingeln lassen – zumindest hatte ich den Eindruck, dass es klingelt – ach, mindestens eine Minute lang. Als niemand an den Apparat ging, schlug Mr. Ewalt vor, noch mal zu ihnen rauszufahren und sie zu ›wecken‹. Aber als wir dort ankamen – da wollte ich nicht. Ins Haus. Ich hatte Angst, ich weiß auch nicht, warum, dabei wäre ich nicht im Traum darauf gekommen – wer denkt schon an so was? Die Sonne schien, und es war mir irgendwie zu ruhig, zu friedlich. Da sah ich, dass alle Autos da waren, sogar Kenyons Kojotenkiste. Mr. Ewalt trug Arbeitskleidung; er hatte matschige Stiefel; in diesem Aufzug konnte er den Clutters unmöglich einen Besuch abstatten. Zumal er noch nie bei ihnen gewesen war. Im Haus, meine ich.
    Schließlich erklärte Nancy sich bereit, mit mir zu kommen. Wir gingen ums Haus herum zur Küchentür, die wie üblich nicht verschlossen war; außer Mrs. Helm verriegelte bei den Clutters nie jemand die Türen. Als wir reinkamen, sah ich sofort, dass die Clutters noch nicht gefrühstückt hatten; der Tisch war nicht gedeckt, und es stand nichts auf dem Herd. Da fiel mir etwas Merkwürdiges auf: Nancys Portemonnaie. Es lag offen auf dem Fußboden. Wir gingen weiter durchs Esszimmer und blieben an der Treppe stehen, die direkt zu Nancys Zimmer führt. Ich rief ihren Namen und ging langsam nach oben, Nancy Ewalt hinterdrein. Das Geräusch unserer Schritte jagte mir einen fürchterlichen Schreck ein, sie waren so laut, und sonst war alles still. Nancys Tür stand offen. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und grelles Sonnenlicht durchflutete das Zimmer. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Aber Nancy Ewalt sagt, ich hätte geschrien wie am Spieß. Ich erinnere mich nur noch an Nancys Teddy und wie er mich anstarrte. Und an Nancy.
    Und wie ich davonlief …«
    In der Zwischenzeit war Mr. Ewalt zu der Einsicht gelangt, dass er die beiden Mädchen unter keinen Umständen allein hätte ins Haus gehen lassen dürfen. Er war eben aus dem Wagen gestiegen, als er die Schreie hörte; er hatte das Haus noch nicht erreicht, da kamen die Mädchen auch schon auf ihn zugestürzt. Seine Tochter rief: »Sie ist tot!«, und warf sich in seine Arme.
    »Wirklich, Daddy! Nancy ist tot!«
    »Gar nicht wahr«, herrschte Susan sie an. »Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen? Sie hat bloß Nasenbluten. Wie immer, schlimmes Nasenbluten, weiter nichts.«
    »Aber dafür ist es zu viel Blut. Die ganzen Wände sind voll Blut. Du hast ja gar nicht richtig hingesehen.«
    »Ich verstand nur Bahnhof«, sagte Mr. Ewalt später aus.
    »Ich dachte, das Kind hat sich vielleicht etwas getan. Da schien es mir das Beste, erst mal einen Krankenwagen zu rufen. Miss Kidwell – Susan – sagte, das Telefon wär in der Küche. Und da war es auch. Aber der Hörer lag daneben, und als ich danach griff, da sah ich, dass das Kabel durchgeschnitten war.«
    Larry Hendricks, Englischlehrer, siebenundzwanzig Jahre alt, wohnte im Dachgeschoss des Lehrerhauses. Er wollte schreiben, dabei war seine Wohnung schwerlich das ideale Domizil für einen Möchtegernschriftsteller. Sie war nicht nur noch kleiner als die der Kidwells, sondern er teilte sie sich obendrein mit seiner Frau, drei lebhaften Kindern und einem ständig laufenden Fernsehapparat.
    (»Die einzige Möglichkeit, die Kinder ruhigzustellen.«) Obwohl er bislang nichts veröffentlicht hat, gemahnt der junge Hendricks, ein sich betont männlich gebender, Pfeife schmauchender Ex-Soldat aus Oklahoma mit Schnurrbart und üppig wucherndem schwarzem Haar, zumindest von fern an einen Schriftsteller – und tatsächlich lässt sein Äußeres an Jugendfotos des Autors denken, den er am meisten bewundert, Ernest Hemingway. Um sein Lehrergehalt ein wenig aufzubessern, arbeitete er nebenher als Schulbusfahrer.
    »Manchmal fahre ich sechzig Meilen am Tag«, erzählte er einem Bekannten. »Da bleibt mir nicht viel Zeit zum Schreiben. Außer sonntags. Also, an diesem Sonntag, dem 15. November, saß ich oben in der Wohnung und blätterte die Zeitungen durch. Die meisten Ideen für meine Storys beziehe ich nämlich aus der Zeitung. Der Fernseher lief, und die Kinder waren ziemlich aufgedreht, trotzdem hörte ich Stimmen.

Weitere Kostenlose Bücher