Kaltblütig
einem Schuss herrühren konnte. Und ich sollte recht behalten. Zwar hatte man ihm, genau wie Kenyon, mitten ins Gesicht geschossen. Aber da war er vermutlich schon tot. Jedenfalls so gut wie. Der Täter hatte ihm nämlich außerdem die Kehle durchgeschnitten.
Er trug einen gestreiften Schlafanzug – sonst nichts. Sein Mund war zugeklebt, der ganze Kopf mit Klebeband umwickelt. Seine Füße waren gefesselt, seine Hände nicht – möglicherweise war es ihm irgendwie, wer weiß, vor Wut oder vor Schmerz, gelungen, den Strick zu zerreißen, mit dem man ihm die Hände zusammengebunden hatte.
Er lag vor dem Kessel ausgestreckt. Auf einem großen Pappkarton, der aussah, als hätte ihn jemand extra zu diesem Zweck dort hingelegt. Die Verpackung einer Matratze. ›Guck mal hier, Wendle‹, sagte der Sheriff und zeigte auf einen blutigen Fußabdruck. Auf dem Karton.
Ein halber Sohlenabdruck mit Kreisen – und zwei Löchern in der Mitte, wie zwei Augen. Dann zeigte einer von uns – Mr. Ewalt? Ich hab’s vergessen – auf etwas anderes. Und das kriege ich einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ein Dampfrohr unter der Decke, und daran hing, mit einem Knoten befestigt, ein Stück von dem Seil, das der Mörder benutzt hatte. Offenbar hatte er Mr. Clutter erst an den Händen aufgehängt und dann wieder abgeschnitten. Aber warum? Um ihn zu foltern? Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wer es getan hat und warum und was genau in dieser Nacht in diesem Haus passiert ist.
Nach einer Weile wurde es eng. Der Krankenwagen kam, der Leichenbeschauer und der Methodistenpfarrer, ein Polizeifotograf, Nationalgardisten, Radiound Zeitungsreporter. Unmengen von Leuten. Die meisten hatte man aus der Kirche geholt, und genau so benahmen sie sich auch. Sie waren ganz leise. Flüsterten bloß. Sie konnten es einfach nicht fassen. Ein Nationalgardist wollte wissen, ob ich dienstlich hier sei, und wenn nicht, dann solle ich lieber verschwinden. Draußen auf der Wiese sah ich, wie der Hilfssheriff mit einem Mann sprach – Alfred Stoecklein, der Knecht. Stoecklein wohnte keine hundert Meter entfernt, und zwischen seinem Haus und dem der Clutters stand nichts weiter als eine Scheune. Trotzdem hatte er angeblich keinen Ton gehört:
›Ich hab vor fünf Minuten erst davon erfahren, als eins von meinen Kindern zur Tür reinkam und sagte, der Sheriff war hier. Meine Frau und ich haben die halbe Nacht kein Auge zugetan, wir waren ständig auf den Beinen, unser Baby ist nämlich krank. Das Einzige, was wir gehört haben, so gegen halb elf, elf, da hörte ich einen Wagen wegfahren, und da sagte ich zu meiner Frau: Das ist bestimmt Bob Rupp.‹ Ich machte mich auf den Heimweg, die Auffahrt hinunter, und etwa auf halber Höhe sah ich Kenyons Collie. Der Hund war völlig verängstigt. Er stand da, mucksmäuschenstill, mit eingezogenem Schwanz, und rührte sich nicht von der Stelle. Und als ich ihn sah – da merkte ich auf einmal, dass ich wieder etwas spürte. Bis dahin war ich zu benommen, zu betäubt gewesen, um das ganze Ausmaß der Tragödie zu begreifen. Das Leid. Das Grauen. Sie waren tot, eine ganze Familie. Nette, freundliche Menschen, Menschen, die ich kannte – ermordet. Daran gab es nichts zu rütteln.«
Im Laufe von vierundzwanzig Stunden rasen acht Fernverkehrszüge durch Holcomb. Zwei von ihnen nehmen nicht nur Post auf, sondern werfen sie auch säckeweise ab – ein Manöver, das, wie die verantwortliche Beamtin eindringlich versichert, durchaus seine Tücken hat. »Jawoll, da muss man ganz schön auf Trab sein. Die Züge kommen hier durch, manchmal mit hundert Meilen in der Stunde. Schon der Fahrtwind kann einen mächtig umhauen. Und wenn dann die Postsäcke angeflogen kommen – meine Herren! Das ist wie ein Sturmangriff beim Football: Rumms! Rumms! RUMMS! Aber ich will mich nicht beklagen. Es ist ehrliche Arbeit, immerhin öffentlicher Dienst, außerdem hält sie mich jung.«
Holcombs Postbotin, Mrs. Sadie Truitt – oder Mother Truitt, wie die Einheimischen sie nennen –, sieht jünger aus, als ihre fünfundsiebzig Lebensjahre vermuten lassen.
Die stämmige, wettergegerbte Witwe, die stets Kopftuch und Cowboystiefel trägt (»Etwas Bequemeres gibt es nicht, federweich, die Dinger«), ist die älteste gebürtige Bewohnerin des Dorfes. »Es gab Zeiten, da war hier jeder mit jedem verwandt. Damals nannte sich das Kaff noch Sherlock. Bis eines Tages dieser Kerl aufkreuzte. Holcomb hieß er.
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