Kaltblütig
die Reparaturwerkstätten ab; vielleicht finde ich ja irgendwo ’nen Job. Auf alle Fälle haben wir da oben bessere Chancen. Außerdem müsste ich dringend mal wieder auf einen Sprung bei Inez reinschauen.« Inez war eine Prostituierte, die Dick auf der Treppe zum Palacio de Bellas Artes in Mexico City angesprochen hatte (der Museumsbesuch war Teil einer Stadtrundfahrt, zu der er sich von Perry hatte breitschlagen lassen). Sie war achtzehn, und Dick hatte ihr versprochen, sie zu heiraten. Doch auch Maria, der fünfzigjährigen Witwe eines »sehr prominenten mexikanischen Bankiers«, hatte er die Ehe versprochen.
Sie hatten sich in einer Bar kennen gelernt, und am nächsten Morgen hatte sie ihm umgerechnet sieben Dollar in die Hand gedrückt. »Also, was meinst du?«, fragte Dick. »Wir verscherbeln die Karre. Suchen uns ’nen Job. Legen ein bisschen was zurück. Und warten ab, was passiert.« Als ob Perry nicht genau wüsste, was passieren würde. Angenommen, sie bekamen zweioder dreihundert für den alten Chevrolet. Wie er Dick kannte – und er kannte Dick inzwischen besser, als ihm lieb war –, würde er das Geld umgehend für Wodka und Weiber auf den Kopf hauen.
Während Perry sang, fertigte Otto in einem Skizzenbuch eine Zeichnung von ihm an. Ein passables Porträt, in dem der Künstler eine Charaktereigenschaft seines Modells zum Vorschein brachte, die auf den ersten Blick nicht unbedingt ins Auge fiel – ein boshafter Schalk, eine knäbische Häme, die an einen heimtückischen Amor denken ließ, der mit vergifteten Pfeilen um sich schießt.
Perry saß mit nacktem Oberkörper da. (Er »schämte« sich, seine Hose ausund eine Badehose anzuziehen, aus Angst, die anderen könnten sich vom Anblick seiner Stummelbeine »abgestoßen« fühlen, und war, trotz seiner Tauchbegeisterung und seiner Unterwasserträumereien, kein einziges Mal im Wasser gewesen.) Otto versuchte sich auch an der einen oder anderen Tätowierung, die den muskelbepackten Brustkorb, die Arme und die kleinen, schwieligen und dennoch mädchenhaften Hände seines Modells zierte. Das Skizzenbuch, das er Perry zum Abschied schenkte, enthielt auch mehrere Zeichnungen von Dick – »Aktstudien«.
Otto schlug sein Skizzenbuch zu, Perry legte seine Gitarre beiseite, und der Cowboy lichtete den Anker und warf die Maschine an. Es war Zeit, zurückzufahren. Sie waren zehn Meilen weit draußen, und das Wasser wurde langsam dunkel.
Perry versuchte Dick zum Angeln zu bewegen. »Das ist womöglich unsere letzte Chance.«
»Chance?«
»Einen dicken Fisch an Land zu ziehen.«
»Mensch, ich hab ’nen Hammerschädel«, sagte Dick.
»Mir ist kotzübel.« Dick hatte häufig einen »Hammerschädel« – starke, migräneartige Kopfschmerzen, die er auf seinen Autounfall zurückführte. »Bitte, Baby. Sei ganz leise.«
Sekunden später waren Dicks Schmerzen vergessen. Er sprang auf und brüllte vor Begeisterung. Auch Otto und der Cowboy brüllten. Perry hatte »einen dicken Fisch« am Haken. Einen drei Meter langen Fächerfisch, der sich wütend hin und her warf, aus dem Wasser sprang, sich wie ein Regenbogen krümmte, tanzte, in die Tiefe tauchte, an der Leine zerrte, auf und ab und auf und ab.
Es verging eine gute Stunde, bis der schweißgebadete Angler ihn an Bord hievte.
Am Hafen von Acapulco trieb sich ein alter Mann mit einer Boxkamera aus Holz herum, und kaum hatte die Estrellita angelegt, beauftragte ihn Otto, sechs Porträts von Perry zu schießen, auf denen er mit seinem Fang posierte. Technisch gesehen waren die Fotos des alten Mannes wertlos – braun und streifig. Was sie trotz allem so bemerkenswert machte, war Perrys Miene, ein Ausdruck von vollkommener Erfüllung und Glückseligkeit, als hätte der große gelbe Vogel seiner Träume ihn endlich gen Himmel getragen.
Eines Nachmittags im Dezember brachte Paul Helm etwas Ordnung in das Blumenbeet, das Bonnie Clutter zur Mitgliedschaft im Garden City Garden Club verholfen hatte. Es war eine traurige Aufgabe, denn sie erinnerte ihn an einen anderen Nachmittag, an dem er dieselbe Arbeit verrichtet hatte. Damals war Kenyon ihm dabei zur Hand gegangen, und er hatte Kenyon und Nancy und die anderen das letzte Mal lebend gesehen. Die vergangenen Wochen hatten Mr. Helm schwer zugesetzt. Es ging ihm »gesundheitlich schlecht« (schlechter, als er ahnte; er hatte keine vier Monate mehr zu leben), und er machte sich um vieles Sorgen. Zum Beispiel um seine Stellung, die er wohl nicht würde behalten
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