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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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glaubte, in seiner neu gewonnenen abergläubischen Gewissheit, »dass was passieren musste, nicht passieren würde«, solange Dick und er »zusammenhielten«. Und nicht zuletzt auch in der Vehemenz von Dicks Gardinenpredigt, der schonungslosen Offenheit, mit der er seine bislang zurückgehaltene Meinung über Perrys Hoffnungen und Träume ausgesprochen hatte – es war pervers, aber all das imponierte Perry, und sosehr es ihn verletzte und schockierte, so sehr becircte und bezauberte es ihn, stärkte es seinen fast verlorenen Glauben an den knallharten, den »durch und durch männlichen«, den pragmatischen, den resoluten Dick, von dem er sich einst hatte herumkommandieren lassen. Und so war Perry an diesem frostigen Dezembermorgen in Mexico City seit Sonnenaufgang in dem ungeheizten Hotelzimmer umhergeschlichen und hatte seine Siebensachen zusammengeklaubt – heimlich, still und leise, damit er die beiden Schlafenden nicht weckte, die in einem der beiden Betten lagen: Dick und Inez, die Jüngere seiner Anverlobten.
    Um eines seiner Besitztümer brauchte Perry sich freilich keine Sorgen mehr zu machen. An ihrem letzten Abend in Acapulco hatte sich ein Dieb mit seiner Gibson-Gitarre aus dem Staub gemacht – in einem Café am Hafen, wo er, Otto, Dick und der Cowboy feuchtfröhlich Abschied gefeiert hatten. Und darüber war Perry sehr verbittert. Es ging ihm »richtig dreckig«, sagte er: »Wenn man eine Gitarre so lange gehabt hat wie ich, sie gewachst und poliert, sich stimmlich auf sie eingestellt und sie wie eine Frau behandelt hat, an der einem wirklich etwas liegt – tja, dann ist sie einem irgendwann heilig.« Aber sie hatten auch ohne die entwendete Gitarre schon genug Gepäck.
    Da Dick und er von nun an zu Fuß oder per Anhalter Weiterreisen würden, konnten sie höchstens ein paar Hemden und Socken mitnehmen. Ihre übrigen Kleidungsstücke mussten sie per Post schicken, darum hatte Perry bereits einen Pappkarton gepackt (mit schmutziger Wäsche und zwei Paar Stiefeln, das eine mit rautenförmig gemusterten, das andere mit Cat’s-Paw-Sohlen) und ihn an sich selbst adressiert, postlagernd, Las Vegas, Nevada.
    Aber die große Frage, die ihm erhebliche Kopfschmerzen bereitete, lautete: Wohin mit seinen geliebten Erinnerungsstücken – den beiden schweren Kartons mit Büchern und Karten, mit vergilbenden Briefen, Songtexten, Gedichten und besonderen Souvenirs (Hosenträger und ein Gürtel aus der Haut von eigenhändig erlegten Nevada-Klapperschlangen, eine in Kyoto gekaufte Netsuke-Figur, ein versteinerter Zwergbaum, ebenfalls aus Japan, die Pfote eines Alaskabären)? Die beste Lösung – zumindest fiel Perry keine bessere ein – war es wohl, die Sachen bei »Jesus« zu deponieren.
    Besagter »Jesus« arbeitete als Barkeeper in einem Café gleich gegenüber vom Hotel und war, so glaubte Perry, muy simpático, vor allem aber vertrauenswürdig – er würde ihm die Kartons auf Wunsch bestimmt nachsenden. (Er wollte sie sich schicken lassen, sobald er eine »feste Adresse« hatte.)
    Einige Dinge waren ihm jedoch zu kostbar, als dass er ihren Verlust riskieren wollte, und so ging er, während die beiden Liebenden noch dösten und der Uhrzeiger langsam auf zwei Uhr vorrückte, alte Briefe, Fotos und Zeitungssausschnitte durch und suchte die Andenken heraus, die er mitzunehmen gedachte, darunter auch ein von Tippfehlern wimmelndes Manuskript mit dem Titel »Die Lebensgeschichte meines Sohnes«. Der Autor dieses Dokuments war Perrys Vater, der es vorigen Dezember verfasst und an den Bewährungsausschuss in Kansas City geschickt hatte, um die Entlassung seines Sohnes aus dem Kansas State Penitentiary zu bewirken. Perry hatte es mindestens hundertmal gelesen, immer mit Interesse:
     
    KINDHEIT – Ich freue mich, Ihnen sowohl gutes, als auch schlechtes mitteilen zu können, jedenfalls meiner Meinung nach. Ja. Perrys Geburt war normal. Gesund – ja. Ja, ich konnte anständig für ihn sorgen, bis die Kinder in die Schule kamen und sich raus stellte, das meine Frau eine elende Säuferin war. Ein fröhliches Kind – ja und nein, sehr ernst vergisst es nie, wenn man ihn ungerecht behandelt. Was man verspricht muss man auch halten, das hat er von mir gelernt. Meine Frau war da anders. Wir lebten auf dem Land. Wir waren alle viel an der frischen Luft. Ich habe meinen Kindern die Goldene Regel beigebracht. Leben & leben lassen und in vielen Fällen haben meine Kinder sich gegenseitig verpetzt, wenn sie was ausgefresen

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