Kaltblütig
gespielt«, erinnerte er sich. »Aber das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich hatte mit Sicherheit etwas gesehen.
Und das war mit Sicherheit kein Geist. Ich glaube nämlich nicht an Geister. Wer also konnte das sein? Wer spukte da im Haus herum, wo außer der Polizei kein Mensch etwas zu suchen hatte? Und wie war er da reingekommen? Wo doch alles verrammelt war, so als hätte das Radio eine Sturmwarnung gebracht. Das ließ mir keine Ruhe. Aber ich hatte nicht die Absicht, das auf eigene Faust herauszufinden. Ich ließ alles stehen und liegen und lief quer über die Felder nach Holcomb. Von dort aus rief ich sofort Sheriff Robinson an und erklärte ihm, dass im Clutter-Haus jemand herumschlich. Sie waren in null Komma nichts vor Ort. Die Polizei. Der Sheriff und seine Leute. Die Jungs vom KBI. Al Dewey. Kaum hatten sie das Haus umstellt und rückten langsam vor, da ging die Tür auf.« Heraus kam ein Mann, den keiner der Anwesenden kannte – ein Mann Mitte dreißig, mit stumpfem Blick und wirrem Haar und einer Pistole Kaliber 38, die er in einem Holster an der Hüfte trug. »Ich glaube, wir dachten alle dasselbe – das ist er, der Mann, der sie auf dem Gewissen hat«, fuhr Mr. Helm fort. »Er rührte sich nicht vom Fleck. Sagte kein Wort. Blinzelte nur. Sie nahmen ihm die Waffe ab und begannen sofort mit dem Verhör.«
Der Mann hieß Adrian – Jonathan Daniel Adrian. Er war unterwegs nach New Mexico und konnte keine feste Adresse angeben. Aus welchem Grund er ins Haus der Clutters eingebrochen und wie er überhaupt hineingekommen sei? Er zeigte es ihnen. (Er hatte den Deckel von einem Brunnenschacht gehoben und war durch ein Rohr in den Keller gekrochen.) Warum? Nun ja, als er von dem Fall gelesen habe, sei er neugierig geworden und habe sich das Haus einfach mal von innen ansehen wollen.
»Und dann«, so Mr. Helm rückblickend, »fragte ihn jemand, ob er per Anhalter reist. Per Anhalter bis nach New Mexico? Nein, sagte er, er sei mit dem eigenen Wagen unterwegs. Er habe ihn in der Auffahrt abgestellt.
Also schauten sie sich den Wagen an. Als sie sahen, was darin lag, sagte einer der Männer – ich glaube, es war Al Dewey – zu diesem Jonathan Daniel Adrian: ›Tja, Mister, sieht ganz so aus, als ob wir was zu besprechen hätten.‹ Denn im Wagen hatten sie eine Flinte Kaliber 12 gefunden. Und ein Jagdmesser.«
Ein Zimmer in einem Hotel in Mexico City. In dem Zimmer eine hässliche, moderne Kommode mit einem blasslila getönten Spiegel und in einer Ecke des Spiegels ein Warnhinweis der Direktion:
SU DIA TERMINA A LAS 2 PM.
IHR TAG ENDET UM 14 UHR.
Mit anderen Worten: Wenn die Gäste das Zimmer nicht zur angegebenen Uhrzeit räumten, mussten sie für einen weiteren Tag bezahlen – ein Luxus, an den die derzeitigen Bewohner nicht einmal zu denken wagten. Sie hatten schon genug damit zu tun, den ausstehenden Betrag zusammenzukratzen. Denn alles war genau so gekommen, wie Perry es vorausgesehen hatte: Dick hatte den Wagen verkauft, und drei Tage später war von dem Geld, knapp zweihundert Dollar, kaum noch etwas übrig gewesen. Am vierten Tag hatte Dick sich auf die Suche nach ehrlicher Arbeit gemacht und Perry abends Bericht erstattet:
»Wahnsinn! Weißt du, was die zahlen? Was ein gelernter Mechaniker hier so verdient ? Zwei Scheine pro Tag. Mexiko! Nee, Schätzchen, ich hab die Schnauze voll.
Wir müssen so schnell wie möglich weg hier. Zurück in die Staaten. Bitte erspar mir dein Gesülze. Diamanten.
Vergrabene Schätze. Wach auf, Kleiner. Hier gibt’s keine Truhen voller Gold. Keine gesunkenen Schiffe. Und selbst wenn – du Idiot kannst ja noch nicht mal schwimmen .«
Und nachdem er sich von der betuchteren seiner beiden »Bräute«, der Bankierswitwe, ein wenig Geld geliehen hatte, kaufte Dick am nächsten Tag zwei Fahrkarten für den Bus, der sie über San Diego bis nach Barstow, Kalifornien, bringen sollte. »Und von da aus«, sagte er, »gehen wir zu Fuß weiter.«
Perry hätte natürlich in Mexiko bleiben, sich allein durchschlagen und Dick zum Teufel gehen lassen können. Warum nicht? War er nicht immer schon »ein Einzelgänger« gewesen, ohne »echte Freunde« (abgesehen von dem grauhaarigen, grauäugigen und »genialen« Willie-Jay)? Aber er hatte Angst, sich von Dick zu trennen; bei dem bloßen Gedanken wurde ihm »schlecht«, als müsse er »bei neunundneunzig Meilen in der Stunde von einem fahrenden Zug abspringen«. Der Grund für seine Angst lag, wie er
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