Kaltblütig
Tasse Kaffee –, ging er auf einen Sprung in Hartmans Café.
»Hallo, Hübscher«, sagte Mrs. Hartman. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nur ’nen Kaffee, Ma’am.«
Sie schenkte ihm eine Tasse ein. »Täusche ich mich?
Oder haben Sie schwer abgenommen?«
»Ein bisschen.« In Wahrheit hatte Dewey in den vergangenen drei Wochen fast zehn Kilo an Gewicht verloren. Seine Anzüge hingen ihm am Leib, als ob er sie von einem etwas fülligeren Freund geliehen hätte, und sein Gesicht, das ohnehin nur selten Rückschlüsse auf seinen Beruf zuließ, ähnelte inzwischen dem eines Asketen, der sich dem Studium des Okkulten verschrieben hat.
»Wie geht es Ihnen denn?«
»Prima.«
»Sie sehen furchtbar aus.«
Ohne Zweifel. Aber auch nicht schlimmer als die anderen Mitglieder seines KBI-Teams – die Agenten Duntz, Church und Nye. Er war jedenfalls in besserer Verfassung als Harold Nye, der trotz Fieber und Erkältung jeden Tag tapfer zum Dienst antrat. Die vier müden Männer hatten zusammen an die siebenhundert Hinweise und Gerüchte »überprüft«. So hatte Dewey zum Beispiel zwei lange anstrengende Tage mit dem Versuch vergeudet, das mexikanische Phantomduo aufzuspüren, das Paul Helm am Vorabend der Morde bei Mr. Clutter gesehen haben wollte.
»Noch ein Tässchen, Alvin?«
»Lieber nicht. Danke, Ma’am.«
Aber sie hatte die Kanne schon geholt. »Der geht auf Kosten des Hauses, Sheriff. So wie Sie aussehen, haben Sie ihn bitter nötig.«
An einem Tisch in der Ecke spielten zwei bärtige Rancharbeiter Dame. Einer von ihnen stand auf und trat zu Dewey an den Tresen. »Stimmt das, was wir gehört haben?«, fragte er.
»Kommt drauf an.«
»Von wegen dem Kerl, der euch ins Netz gegangen ist?
Als er im Clutter-Haus rumgeschnüffelt hat? Der soll’s gewesen sein. Haben wir gehört.«
»Ich glaube, da haben Sie sich verhört, guter Mann. Und zwar gewaltig.«
Obwohl Jonathan Daniel Adrian, der wegen unerlaubten Waffenbesitzes im Bezirksgefängnis festgehalten wurde, unter anderem einen längeren Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung des Topeka State Hospital hinter sich hatte, deuteten die von den Ermittlern zusammengetragenen Daten darauf hin, dass ihm im Fall Clutter allenfalls übertriebene Neugier angelastet werden konnte.
»Also, wenn er der Falsche ist, warum findet ihr dann verfluchtnochmal nicht endlich den Richtigen? Ich hab das ganze Haus voll Weiber, die sich noch nicht mal mehr allein aufs Klo trauen.«
Dewey hatte sich an derlei Beschimpfungen gewöhnt; sie gehörten für ihn zum Alltag. Er leerte die zweite Tasse Kaffee, seufzte, lächelte.
»Verdammt, ich mache keine Witze. Das ist mein Ernst.
Warum verhaftet ihr nicht endlich jemand? Dafür werdet ihr schließlich bezahlt.«
»Halt dein Schandmaul«, sagte Mrs. Hartman. »Wir sitzen alle im selben Boot. Alvin tut, was er kann.«
Dewey zwinkerte ihr zu. »Wem sagen Sie das, Ma’am.
Und vielen Dank für den Kaffee.«
Der Rancharbeiter wartete, bis sein Opfer an der Tür war, und feuerte dann seine Abschiedssalve ab. »Wenn Sie noch mal als Sheriff kandidieren, können Sie meine Stimme vergessen. Die kriegen Sie nicht.«
»Halt dein Schandmaul«, sagte Mrs, Hartman.
Von Hartmans Café bis zur River Valley Farm ist es etwa eine Meile. Dewey beschloss, zu Fuß zu gehen. Er wanderte gern durch Weizenfelder. Normalerweise unternahm er einoder zweimal wöchentlich ausgedehnte Spaziergänge über sein Land, das geliebte Stück Prärie, wo er eines Tages ein Haus bauen, Bäume pflanzen und seinen Urenkeln beim Spielen zusehen wollte. Das war sein Traum, ein Traum, den seine Frau, wie sie ihm unlängst zu verstehen gegeben hatte, nicht mehr teilte; sie denke gar nicht daran, einsam und allein »da draußen auf dem Land« zu leben. Dewey wusste, dass sie es sich auch dann nicht anders überlegen würde, wenn es ihm gelänge, die Mörder gleich morgen früh zu fassen – nicht, nachdem Freunde, die in einem abgelegenen Landhaus wohnten, ein so schreckliches Schicksal ereilt hatte.
Die Clutters waren natürlich nicht die Ersten, die in Finney County geschweige denn in Holcomb ermordet worden waren. Die älteren Einwohner der kleinen Gemeinde erinnern sich da an »eine wilde Geschichte« von vor über vierzig Jahren – den Hefner-Mord. Mrs. Sadie Truitt, die fünfundsiebzigjährige Briefträgerin des Dorfes und Mutter der Postmeisterin Clare, weiß alles über diesen legendären Fall: »Es war im August 1920. Heiß wie die Hölle. Ein Kerl
Weitere Kostenlose Bücher