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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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tiefe Stille der Prärie. Er konnte sich in Herbs Schaukelstuhl im Wohnzimmer setzen und schaukeln und nachdenken. Einige seiner Schlussfolgerungen waren unabweisbar: Er glaubte, dass die Verbrecher es in erster Linie auf Herb Clutter abgesehen hatten, getrieben von einem psychopathischen Hass oder auch einer Mischung aus Hass und Habgier, und er glaubte, dass sich die Killer Zeit gelassen hatten und zwischen Eindringen und Verschwinden der Täter mindestens zwei Stunden vergangen waren. (Der Leichenbeschauer Dr. Robert Fenton hatte festgestellt, dass sich die Körpertemperaturen der Opfer erheblich unterschieden, woraus er schloss, dass sie in folgender Reihenfolge hingerichtet worden waren: Mrs. Clutter, Nancy, Kenyon und Mr. Clutter.) Aufgrund dieser Hypothesen war Dewey zu der Auffassung gelangt, dass die Familie ihre Mörder gut gekannt haben musste.
    An einem Fenster im ersten Stock blieb Dewey stehen, denn etwas in nicht allzu weiter Ferne hatte seine Aufmerksamkeit erregt – eine Vogelscheuche inmitten der Weizenstoppeln. Die Vogelscheuche trug eine Jagdmütze und ein ausgebleichtes Hauskleid aus geblümter Baumwolle. (Gewiss ein altes Kleid von Bonnie Clutter?) Der Wind spielte mit dem Rock und ließ die Vogelscheuche schwanken, als vollführte sie auf dem kalten Dezemberfeld einsam einen kleinen Tanz. Dewey fühlte sich unwillkürlich an Maries Traum erinnert. Vor ein paar Tagen hatte sie ihm ein missratenes Frühstück aufgetischt, gezuckerte Eier mit gesalzenem Kaffee, und einen »albernen Traum« dafür verantwortlich gemacht – einen Traum, den auch das grelle Tageslicht nicht hatte vertreiben können. »Es wirkte alles so echt, Alvin«, sagte sie. »So echt wie diese Küche. Ich war hier. In der Küche. Ich kochte das Abendessen, und plötzlich kam Bonnie zur Tür herein. Sie trug einen blauen Angorapullover und sah reizend aus und wunderschön. Und ich sagte: ›Ach, Bonnie … Bonnie, Liebes … Ich habe dich seit dieser schrecklichen Geschichte nicht gesehen.‹ Aber sie gab keine Antwort, sondern schaute mich nur schüchtern an, wie es so ihre Art war, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unter diesen Umständen. Also sagte ich: ›Guck mal, Schätzchen, was ich Alvin zu Abend koche. Einen Topf Gumbo. Mit Shrimps und frischen Krabben. Es ist fast fertig. Komm, probier mal.‹ Aber sie wollte nicht. Sie blieb an der Tür stehen und sah mich an. Und dann – ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber sie schloss die Augen, schüttelte ganz langsam den Kopf, rang noch langsamer die Hände und fing wimmernd an zu flüstern.
    Ich verstand kein Wort. Aber es zerriss mir fast das Herz, mir hatte noch nie jemand so leidgetan, und ich nahm sie in den Arm. Ich sagte: ›Bitte, Bonnie! Nicht weinen, Schätzchen, nicht! Wenn je ein Mensch zu Gott heimgehen durfte, dann du, Bonnie.‹ Aber sie war untröstlich.
    Sie schüttelte den Kopf, rang die Hände, und plötzlich verstand ich, was sie sagte.
    Sie sagte: ›Ermordet werden.
    Ermordet werden. Nein. Nein. Nichts ist schlimmer.
    Nichts ist schlimmer als das. Nichts.‹«
     
    Es war Mittag, tief in der Mojave-Wüste. Perry saß auf einem Strohkoffer und spielte Mundharmonika. Dick stand am Rand des schwarz asphaltierten Highways, der Route 66, und starrte in das reine Nichts hinaus, als könnte er mit seinem bohrenden Blick einen fahrbaren Untersatz herbeizaubern. Aber kaum ein Auto kam vorbei, und keins davon hielt an, um die beiden mitzunehmen. Ein Lastwagenfahrer auf dem Weg nach Needles, Kalifornien, hatte ihnen seine Hilfe angeboten, aber Dick hatte dankend abgelehnt. Er und Perry hatten andere Pläne. Sie warteten auf jemanden, der allein reiste, mit dickem Wagen und vollem Portemonnaie – einen Fremden, den sie ausrauben, erdrosseln und in der Wüste abladen konnten.
    In der Wüste hört man vieles, lange bevor man es sieht.
    Dick vernahm das schwache Brummen eines noch unsichtbaren Wagens. Perry hörte es auch; er verstaute die Mundharmonika in seiner Hosentasche, nahm den Strohkoffer (ihr einziges Gepäckstück, prallvoll mit Perrys Souvenirs plus drei Hemden, fünf Paar weißen Socken, einer Schachtel Aspirin, einer Flasche Tequila, einer Schere, einem Rasierapparat und einer Nagelfeile; ihre übrigen Habseligkeiten hatten sie entweder versetzt, bei dem mexikanischen Barkeeper deponiert oder nach Las Vegas geschickt) und stellte sich neben Dick an den Straßenrand. Gespannt hielten sie Ausschau. Da erschien der Wagen, wurde

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