Kaltblütig
der kleine Schatten, der über das Gras huscht und sich im Sonnenuntergang verliert.‹ – Chief Crowfoot, Häuptling der Schwarzfußindianer«.
Dieser letzte Eintrag war mit roter Tinte geschrieben und mit einem Zierrahmen aus grünen Sternen versehen; der Notator wollte wohl betonen, dass der Vermerk für ihn eine »persönliche Bedeutung« habe. »Der Atem eines Büffels im Winter« – das entsprach genau seiner Sicht des Lebens. Wozu sich Sorgen machen? Was hatte es für einen Sinn, sich »künstlich aufzuregen«? Der Mensch war nichts, ein bloßer Dunst, ein Schatten, verschluckt von anderen Schatten.
Aber verdammt nochmal, man machte sich eben doch so seine Sorgen und Gedanken, und sei es über den Zustand seiner Fingernägel oder die Warnhinweise der Hoteldirektion – »SU DÍA TERMINA A LAS 2 P.M.«
»Dick? Hörst du?«, sagte Perry. »Es ist gleich eins.«
Dick war wach. Und nicht nur das; er trieb es mit Inez.
Als würde er einen Rosenkranz herunterbeten, flüsterte er in einem fort: »Ist es gut, Baby? Ist es gut?« Doch Inez, die eine Zigarette rauchte, blieb stumm. Als Dick sie gegen Mitternacht aufs Zimmer mitgebracht und Perry eröffnet hatte, dass sie dort schlafen werde, hatte Perry zähneknirschend zugestimmt, aber wenn sie sich einbildeten, dass ihr Verhalten ihm nicht etwa »auf den Zeiger ging«, sondern ihn am Ende gar erregte, lagen die beiden gründlich falsch. Trotzdem tat Inez ihm leid. Sie war so ein »dummes kleines Ding« – sie glaubte allen Ernstes, Dick würde sie heiraten, und ahnte nicht, dass er Mexiko noch heute Nachmittag verlassen wollte.
»Ist es gut, Baby? Ist es gut?«
»Herrgott, Dick«, sagte Perry. »Mach endlich voran.
Unser Tag endet um zwei.«
Es war Samstag, Weihnachten stand vor der Tür, und der Verkehr kroch durch die Main Street. Dewey, der im Gewühl feststeckte, sah zu den Stechpalmengirlanden empor, die über der Straße hingen – festliches, mit scharlachroten Pappglocken geschmücktes Grün –, und ihm fiel ein, dass er für seine Frau und seine Söhne noch kein einziges Geschenk besorgt hatte. Alles, was nicht mit den Clutter-Morden zusammenhing, blendete er automatisch aus. Marie und seine Freunde fragten sich allmählich, ob der Fall für ihn nicht längst zur fixen Idee geworden war.
Ein enger Freund, der junge Rechtsanwalt Clifford R.Hope jr. hatte ihn offen darauf angesprochen: »Weißt du, dass du dich verändert hast, Al? Ist dir klar, dass du von nichts anderem mehr redest?« »Tja«, hatte Dewey erwidert, »ich denke ja auch an nichts anderes mehr. Und wenn ich darüber spreche, komme ich vielleicht auf etwas, woran ich bislang nicht gedacht habe. Auf einen neuen Aspekt. Oder dir fällt etwas ein. Mensch, Cliff, was soll bloß aus mir werden, wenn der Fall ungelöst bleibt?
Noch jahrelang würde ich jedem Hinweis nachgehen, und immer wenn in der Gegend hier ein Mord geschieht, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dieser Sache hat, würde ich mich sofort reinhängen, um rauszukriegen, ob da vielleicht ein Zusammenhang besteht. Aber nicht nur das. Ich habe inzwischen das Gefühl, Herb und seine Familie besser zu kennen, als sie sich selbst je kannten.
Ihre Geister verfolgen mich. Und so wird es wohl auch bleiben. Bis ich genau weiß, was passiert ist.«
Dank seiner Hingabe an den Fall Clutter war Dewey, anders als früher, unaufmerksam und zerstreut. Noch heute Morgen hatte Mary ihn gebeten, er möge bitte, bitte, bitte unter keinen Umständen vergessen … Nur was er nicht vergessen sollte, daran konnte er sich beim besten Willen nicht entsinnen, und die Erinnerung kehrte erst zurück, als er dem Einkaufsverkehr entronnen war, über die Route 50 Richtung Holcomb brauste und an der Tierarztpraxis von Dr. J. E. Dale vorbeikam. Natürlich.
Seine Frau hatte ihn gebeten, Courthouse Pete, die Katze der Familie, abzuholen. Pete, ein tigergestreifter, sieben Kilo schwerer Kater, ist in Garden City kein Unbekannter und nicht zuletzt für seine Kampfeslust berühmt, derentwegen er sich auch diesmal in ärztlicher Behandlung befand; bei einem verlorenen Duell mit einem Boxerhund hatte er Wunden davongetragen, die genäht und mit Antibiotika behandelt werden mussten. Von Dr. Dale entlassen, machte Pete es sich auf dem Beifahrersitz im Wagen seines Herrchens bequem und schnurrte den ganzen Weg nach Holcomb.
Eigentlich wollte der Detective zur River Valley Farm, aber da es ihn nach etwas Warmem gelüstete – einer heißen
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