Kaltblütig
demonstrieren, wenn Gefühle ihr Begriffsvermögen trüben. Diese Schwäche Deiner Schwester wird im weiteren Verlauf des Briefes immer deutlicher, wo ihre Urteilskraft zusehends durch Leidenschaft verdrängt wird – ihre Gedanken sind gut, luzide und zeugen von Intelligenz, nur dass diese Intelligenz nun nicht mehr sachlich und unvoreingenommen ist. Ihr Denken wird beherrscht von emotionalen Reaktionen auf Erinnerung und Frustration; folglich führen ihre Ermahnungen, so klug sie auch sein mögen, zu keiner Lösung, es sei denn, diese Lösung besteht darin, es ihr heimzuzahlen, indem Du sie in Deinem nächsten Brief verletzt. Wodurch ein Kreislauf entstünde, der letztlich in nur noch mehr Wut und Kummer gipfeln kann.
2) Es ist ein törichter Brief, geboren aus menschlichem Versagen.
Sowohl Dein Brief an sie als auch diese ihre Antwort an Dich haben ihr Ziel verfehlt. Dein Brief war der Versuch, ihr Dein Weltbild zu erklären, das Dein Handeln zwangsläufig beeinflusst. Er musste quasi missverstanden oder allzu wörtlich genommen werden, weil Deine Ideen sämtlichen Konventionen zuwiderlaufen. Was könnte konventioneller sein als eine Hausfrau mit drei Kindern, die »nur für ihre Familie« lebt???? Dass sie einen unkonventionellen Menschen ablehnt, ist da nur natürlich. Die Konvention birgt ein beträchtliches Maß an Heuchelei. Jeder denkende Mensch ist sich dieses Paradoxons bewusst; dennoch empfiehlt es sich, konventionelle Menschen nicht als Heuchler zu behandeln. Das ist keine Frage der Prinzipientreue; es geht vielmehr darum, einen Kompromiss zu schließen, der es einem erlaubt, ein selbstbestimmtes Individuum zu bleiben, ohne sich ständig von den Zwängen der Konvention bedroht zu fühlen. Ihr Brief hat sein Ziel verfehlt, weil sie die wahre Tiefe Deines Problems nicht erkannt hat – sie hat gar keine Vorstellung von den Zwängen, denen Du ausgesetzt bist, sowohl seitens Deiner Umwelt als auch aufgrund Deiner intellektuellen Frustration und Deiner zunehmenden Isolationstendenz.
3) Sie ist der Meinung, dass Du
a) zu sehr zum Selbstmitleid neigst,
b) zu berechnend bist und es
c) im Grunde nicht verdient hast, dass sie Dir trotz dringender mütterlicher Pflichten einen 8-seitigen Brief schreibt.
4) Auf Seite 3 schreibt sie: »Ich finde, keiner von uns hat das Recht einem anderen die Schuld dafür zu geben usw.« Und entlastet damit all jene, die sie in ihren entscheidenden Lebensjahren geprägt haben. Aber ist das die ganze Wahrheit? Sie ist Ehefrau und Mutter.
Und führt eine rechtschaffene, mehr oder minder sichere Existenz. Es ist leicht, den Regen zu ignorieren, wenn man einen Regenmantel hat. Aber ob sie das wohl genau so sähe, wenn sie sich ihre Brötchen auf dem Strich verdienen müsste? Ob sie den Menschen ihrer Vergangenheit dann immer noch so großmütig verzeihen würde? Mit Sicherheit nicht. Ebenso gern wie wir anderen die Schuld an unserem Versagen geben, neigen wir nämlich dazu, jene zu vergessen, die zu unseren Erfolgen beigetragen haben.
5) Deine Schwester respektiert Euren Dad. Zugleich nimmt sie es ihm übel, dass er Dich bevorzugt hat. Ihre Eifersucht durchzieht, wenn auch in subtiler Form, den ganzen Brief. Zwischen den Zeilen steht die unausgesprochene Frage: »Ich liebe Dad und habe mich bemüht, so zu leben, dass er auf seine Tochter stolz sein kann. Trotzdem musste ich mich mit den Brosamen seiner Zuneigung begnügen. Weil er nur Dich liebt, und sonst niemanden. Warum?«
Offenbar hat Dein Dad sich die sentimentale Ader Deiner Schwester im Lauf der Jahre zunutze gemacht und in seinen Briefen ein Bild von sich gemalt, das ihren Eindruck seiner Person bestätigt – der ewig zu kurz Gekommene, der noch dazu mit einem undankbaren Sohn geschlagen ist, den er zeitlebens mit Liebe und Fürsorge überschüttet hat, nur um von ihm zum Dank schäbig und gemein behandelt zu werden.
Auf Seite 7 schreibt sie, es tue ihr leid, dass ihr Brief die Zensur passieren müsse. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall. Sie ist froh, dass er von einem Zensor gelesen wird. Unbewusst hat sie sogar an den Zensor gedacht, als sie ihn schrieb, in der Hoffnung, ihm die Smiths als eine Familie präsentieren zu können, in der alles seine Ordnung hat: »Bitte beurteilen Sie uns nicht nach Perry.«
Was die Mutter angeht, die das »Wehweh« ihres Kindes wegküsst. Das ist eine weibliche Form des Sarkasmus.
6) Du schreibst ihr, weil:
a) Du sie auf Deine Art liebst,
b) Du diese Verbindung nach draußen
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