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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Nebraska vorüberzog, und spielte mit seiner Mundharmonika – blies eine improvisierte Melodie und wartete darauf, dass Dick ihm das vereinbarte Stichwort gab: »He, Perry, hast du mal ein Streichholz?« Worauf Dick das Steuer übernehmen sollte, während Perry den Schädel des Vertreters »knackte«, indem er ihn mit dem eingewickelten Stein traktierte, bevor, auf derselben ruhigen Nebenstraße, der Gürtel mit den himmelblauen Perlen zum Einsatz kam.
    Inzwischen erzählten sich Dick und der todgeweihte Mann schmutzige Witze. Ihr Gelächter war Perry zuwider, besonders das gellende Belfern Mr. Beils, das ihn stark an das Lachen seines Vaters Tex John Smith erinnerte. Die Erinnerung an das Lachen seines Vaters machte ihn nur noch nervöser; er hatte Kopfschmerzen, und die Knie taten ihm weh. Er kaute drei Aspirin und schluckte sie trocken hinunter. Herrgott! Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen oder ohnmächtig zu werden; wenn »die Party« nicht bald losging, konnte er für nichts mehr garantieren. Es dämmerte, die Straße war schnurgerade, kein Haus und keine Menschenseele weit und breit – nichts als das vom Winter kahl gefressene Land, eisengrau und düster. Jetzt war es so weit, jetzt. Er starrte Dick an, wie um ihm diese Einsicht telepathisch zu vermitteln, und winzige Anzeichen – ein zuckendes Lid, Schweißperlen auf der Oberlippe – verrieten ihm, dass Dick zu demselben Schluss gekommen war.
    Aber als Dick den Mund aufmachte, ließ er doch nur wieder einen Witz vom Stapel. »Und jetzt ein Rätsel. Das Rätsel lautet: Was haben der Gang aufs Klo und der Gang zum Friedhof gemeinsam?« Er grinste. »Keine Ahnung?«
    »Keine Ahnung.«
    »Wer muss, der muss.«
    Mr. Bell brüllte vor Lachen.
    »He, Perry, hast du mal ein Streichholz?«
    Doch just als Perry die Hand hob, um den Stein niedersausen zu lassen, geschah etwas Unerwartetes, das Perry später »ein verdammtes Wunder« nannte. Plötzlich erschien ein dritter Anhalter am Straßenrand, ein schwarzer Soldat, für den der hilfsbereite Vertreter anhielt. »Der ist gut«, sagte er, als sein Retter auf den Wagen zugelaufen kam. »Wer muss, der muss.«
     
    16. Dezember 1959, Las Vegas, Nevada. Zeit und Witterung hatten den ersten und den letzten Buchstaben – R und S – getilgt und das reichlich ominöse Wörtchen OOM zurückgelassen. Das Wort, kaum lesbar auf einem verzogenen, von der Sonne gebleichten Schild, schien bestens zu der beworbenen Unterkunft zu passen, denn die war, wie Harold Nye in seinem KBI-Bericht vermerkte, »schäbig und heruntergekommen, ein Hotel bzw. eine Pension der übelsten Sorte«. Im Bericht hieß es weiter:
    »Bis vor ein paar Jahren war es (nach Angaben der Las Vegas Police) eines der größten Bordelle im Westen.
    Dann zerstörte ein Brand das Hauptgebäude, und der Rest wurde zu einer billigen Pension umgebaut.« Die »Lobby« war leer, bis auf einen mannshohen Kaktus und ein ebenfalls unbesetztes provisorisches Empfangspult.
    Der Detective klatschte in die Hände. Nach einer Weile rief eine weibliche, wenn auch wenig feminine Stimme:
    »Ich komme«, trotzdem vergingen geschlagene fünf Minuten, bis die Frau schließlich erschien. Sie trug ein schmutziges Hauskleid und hochhackige goldene Ledersandalen. Lockenwickler fixierten ihr dünnes, gelbliches Haar. Ihr Gesicht war breit und markant, und sie hatte Rouge und Puder aufgelegt. Sie hielt eine Büchse Miller High Life in der Hand; sie roch nach Bier und Tabak und frisch aufgetragenem Nagellack. Sie war vierundsiebzig Jahre alt, sah für Nye jedoch eindeutig »jünger aus – etwa zehn Minuten jünger«. Sie musterte ihn eingehend, seinen eleganten braunen Anzug, seinen braunen Snapbrim-Hut. Als er ihr seine Marke präsentierte, zeigte sie sich amüsiert; ihr Lächeln entblößte zwei Reihen falscher Zähne.
    »Mhhm. Hab ich’s mir doch gedacht«, sagte sie.
    »Na, dann schießen Sie mal los.«
    Er reichte ihr eine Fotografie von Richard Hickock.
    »Kennen Sie den?«
    Ein verneinendes Grunzen.
    »Oder den?«
    »Mhhm«, machte sie. »Der hat ein paarmal hier gewohnt. Ist aber schon vor über einem Monat ausgezogen.
    Wollen Sie das Fremdenbuch sehen?«
    Nye stützte sich auf das Pult und sah zu, wie die Wirtin mit langen, lackierten Fingernägeln an einer Liste von mit Bleistift eingetragenen Namen entlangglitt. Las Vegas war die erste der drei Städte, die er im Auftrag seiner Dienstherren besuchte, um Perry Smiths Vergangenheit zu durchleuchten. Die

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