Kaltduscher
man das merkt. Ich bleibe im Türrahmen stehen. Mein Unterkiefer fällt in Tiefen, die anatomisch betrachtet gar nicht möglich sind. Ich bin mir sicher, dass die Weltgeschichte genau in diesem Moment noch einmal mit dem Jahr 0 beginnt.
Auf unserem Flur steht die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Sie kam gerade aus Retos Zimmer. Kein Zweifel. Ihr glänzendes kastanienfarbenes Haar wird von einem entzückend eigenwillig diagonal über ihren Kopf gezogenen Scheitel in zwei Gruppen geteilt, von denen eine ihre wie von Rodin persönlich vollendete rechte Wange umschmeichelt, während die andere sich damit begnügt, ihr linkes Ohr zu verdecken und sich erst weiter unten, dort wo ihre markanten Schultern aus dem cremefarbenen Sommerkleid hervorkommen, wieder nach vorne wagt. Als sie mich sieht, hebt sie ihre zarten, an den Außenseiten sich allmählich in ein Nichts verlierenden Augenbrauen, was ihre großen braunen Rehaugen noch ein wenig größer macht, und, als ob das noch nicht genug wäre, formt sie mit ihren breiten Lippen ein Lächeln, das mir sofort die Füße wegzieht, was aber nichts macht, weil ich ohnehin gerade schwebe. Audrey Hepburn, Claudia Schiffer, Sienna Miller – war nett mit euch, aber ihr könnt einpacken.
Wie aus einer anderen Welt höre ich Retos Stimme.
»Darf irch vorstellen? Das ist Krach, mein Mitbewohnchr, und das ist Madeleine.«
»Hallo, Krach!«
Oh, so viel positive Energie in der Stimme. Huch, ihre schlanke, zart gebräunte Hand kommt auf mich zu. Ich nehme sie ungläubig wie ein Bettler, dem man einen 100-Euro-Schein gibt.
»D… Danke.«
Krass. Ich habe wirklich »danke« gesagt. Na ja, wenigstens nicht »Darf ich das behalten?«. Madeleine lächelt noch einmal, diesmal leicht verschmitzt, was ihr wiederum genau die leicht irdische Note gibt, die ihr noch zur absoluten Perfektion gefehlt hat, und wendet sich wieder Reto zu. Die beiden verlassen die Wohnung und versuchen, sich dabei anscheinend gegenseitig im Lächeln zu überbieten.
In Slapstickfilmen läuft es ja immer so, dass, wenn eine überirdisch schöne Frau einen Raum mit Männern drin betritt, alle verstummen, sie anstarren und sich irgendwo im Vordergrund einer sein Bier über den Latz kippt, ohne es zu merken. Das ist aber ganz platter Klamauk, das hat mit dem echten Leben nichts zu tun. Ich habe mir mein Bier natürlich nicht über den Latz gekippt. Ich weiß nicht, wo es hingekommen ist. Es muss sich irgendwie unter Madeleines Einfluss dematerialisiert haben.
Gonzo steht neben mir. Bis jetzt habe ich ihn noch gar nicht wahrgenommen. Ihn muss die Erscheinung mit noch größerer Wucht getroffen haben. Warum sollte er sich sonst ein riesiges Stofftuch in den Rachen gestopft haben? Da muss man ja fast Mitleid kriegen.
»Waf wa daf bikkefön?«
»Ich kann es nicht mit Worten beschreiben.«
»Waf mach fo eige Fau ei Eto?«
»Kannst du mal das Tuch aus dem Mund nehmen?«
»Afo, hak gaich gegenk…«
»Alter, ich mach mir Sorgen um dich.«
»Na, dann schau lieber mal dich an. Du hast dir dein Bier über den Latz gekippt.«
Also doch. Bäh.
»Was macht so eine Frau bei Reto?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht rauchen die Fotomodelle jetzt Kuh-Gras?«
»Oder sie finden den Schweizer Akzent sexy?«
»Hm, kann sein. Da stellen sie sich wahrscheinlich immer gleich eine Kreuzung aus Milliardär und Skilehrer vor.«
»Eigentlich muss man nur ›Chr‹ statt ›K‹ sagen und an jeden zweiten Satz ›odrch‹ dranhängen, oder?«
»Wir müssen Reto mal heimlich aufnehmen und analysieren.«
»Glaubst du, die kommt wieder?«
»So wie die sich angeschaut haben – ja.«
»Vielleicht hat sie noch Schwestern…«
»Was ist das eigentlich für ein Tuch?«
»Hm? Ach so, das ist das neue Andrej-Rebukanow-Transparent. Hab ich gerade bei Forza Idee aus dem Plotter gelassen. Diesmal aus feuerfestem Stoff. Falls die Russen noch mal kommen, hihi.«
»Deinen Sabber hat es ja anscheinend auch ganz gut verkraftet.«
»Du, das soll sogar richtig wetterfest sein. Die haben mir gesagt, ich soll das mal testen. Ich häng das jetzt ein paar Tage vor mein Fenster.«
Tobi kommt durch die Tür.
»Habt… habthabt… ihr… ReReReto… undundund…«
Wir nicken.
»Aber wiewie… wowo…?«
Wir zucken mit den Schultern.
»Komm, trink erst mal was.«
Wie weich meine Knie immer noch sind. Ich schiele vom Küchentisch durch die offenen Türen in mein Zimmer. Unglaublich, dass ich vor ein paar Minuten noch gedacht habe, ich
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