Kalte Fluten
nach den ersten Ermittlungen ein Rentner mit seinem kleinen Hund«, sagte der uniformierte Kollege. »Vermutlich wurde der Täter von den beiden überrascht, und sie mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen.«
»Selbstmord ausgeschlossen?«, fragte Wiebke und ärgerte sich im selben Moment über diese dumme Bemerkung.
»Na ja. Dann hätten wir den ersten Selbstmörder, der, bevor er sich erhängt, seine Hände und Füße mit Kabelbinder fesselt und sich dann noch selbst – wie das auch immer gehen soll – den Strick um den Hals legt.«
»Sehr witzig, Herr Kollege, sehr witzig«, bemerkte Wiebke scharf. »Was meinst du, Wolfgang?«
Wolfgang stand geistesabwesend am Ort des Geschehens.
»Äh«, stammelte er. »Ich weiß nicht. Ich dachte, wir hätten den ›Bereue‹-Mörder gefasst? Schon wieder einer?«
Auch Wiebke war ratlos. Kiesewetter saß. Er konnte es nicht gewesen sein. »Vielleicht einer, der die Masche kopiert hat«, sagte sie.
Sie wusste, dass sie wieder ganz am Anfang beginnen musste. Aber erst in über vier Wochen. Denn am Samstag ging es ja mit Thomas auf die Seychellen. Dann musste eben Wolfgang der Sache nachgehen. Sie hatte weiß Gott genug für ihn getan. Und selbst wenn er nicht viel zustande brächte. Dann eben nicht. Jetzt war sie mal dran.
Ihr Handy klingelte.
»Das gibt es nicht«, sagte sie in die Muschel, nachdem sie eine Weile zugehört hatte. »Ganz sicher?«, hakte sie noch einmal nach.
»Was ist los?«, fragte Wolfgang, nachdem Wiebke das Gespräch beendet hatte.
»Ein weiterer ›Bereue‹-Mord. Entweder wird es Mode, oder unser Täter hat einen Gang höher geschaltet.«
Wiebke gab den Beamten der Spurensicherung noch Anweisungen, bevor sie zum nächsten Tatort aufbrachen. Sie ging zum Auto. Wolfgang folgte ihr gleichmütig. Wie ein Hund, dachte sie.
***
Das ganze Treppenhaus stank bereits. Eine unglaublich widerliche Mischung aus Aas, gekochtem Fleisch und Fäkalien schlug ihnen entgegen, als sie den Aufzug betraten, um in das Penthouse zu fahren. Man hatte ihr telefonisch den Namen des Opfers durchgegeben. Egon Schleicher war ein alter Bekannter. Sein Vorstrafenregister reichte für drei. Er trieb für die Schutzgeldmafia das Geld ein. Wer nicht zahlte, wurde, wenn er Glück hatte, von Egon Schleicher nur verprügelt. Schleicher schreckte aber auch vor der Entführung von Kindern der Erpressungsopfer nicht zurück. Auch Brandstiftung gehörte zu seinem Repertoire. Aber man konnte ihm nur selten etwas nachweisen. Die Opfer hatten Angst vor noch mehr Gewalt, schwiegen und zahlten. Es war ein Teufelskreis.
In der Wohnung war der Geruch endgültig unerträglich. Ein Beamter reichte Wiebke und Wolfgang eine Atemschutzmaske. Sie war notwendig. Selbst der an die Gerüche toter Menschen gewöhnte Dr. Herbert Streicher trug eine solche Maske.
Die Schrauben, mit denen der Täter die Saunatür fixiert hatte, hatten die Beamten der Streife, die von den Nachbarn wegen des höllischen Gestanks gerufen worden war, bereits entfernt.
Wiebke warf einen Blick auf den Tatort. Wieder ein Wecker. Wieder dieses Wort »BEREUE«. Sie begann, die Presse zu hassen. Detailliert hatten sie über jedes der Verbrechen berichtet. Hochgejubelt wurden die Täter. Als Racheengel wurden sie gefeiert. Halleluja: Kreuzigt ihn. Es hatte sich seit Jahrtausenden nichts geändert.
Niemand hatte auch nur eine Spur von Mitleid. Denn die, die es traf, hatten es ja schließlich nicht anders verdient. Auch bei Egon dürfte wieder einmal das publizistische »Sein Wille geschehe« durch den Blätterwald rauschen.
Dann sah sie die Leiche. Sie rannte auf die Dachterrasse, riss sich die Atemschutzmaske vom Gesicht und erbrach sich in einen der Blumenkübel.
Wolfgang war ihr gefolgt und wollte sie stützen.
»Lass mich«, fuhr sie ihn an.
Streicher trat ebenfalls auf die Terrasse.
»Was ist mit ihm passiert, Herbert?«, fragte sie ihn.
»Er ist gar, würde ich sagen.«
»Lass deine Witze.«
»Eigentlich ist es keiner. Er wurde gefesselt – du ahnst es schon, mit Kabelbindern – und dann in seine eigene Sauna gesteckt. Er musste auf das Wort ›BEREUE‹ und auf einen Wecker starren. Ich gehe davon aus, dass er vor circa fünfzehn bis achtzehn Stunden eingesperrt wurde. Damit er auch ja keine Chance zur Flucht hatte, hat der Täter die Tür mit Holzschrauben fixiert. Außerdem habe ich erhebliche Gesichtsverletzungen festgestellt. Vielleicht hat es einen Kampf gegeben. Genaueres …«
»Nach der
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