Kalte Fluten
Wiebke einen Mann gefunden hatte, der so viel Verständnis für die Belange des Dienstes aufbrachte. Menschen mit einem solchen Verantwortungsbewusstsein und einer solchen Bereitschaft, eigene Bedürfnisse hinter die Erfordernisse des Berufes zu stellen, gab es wenige. Viel zu wenige.
***
Am selben Abend stand Wiebke in der Küche und schälte Kartoffeln. Sie wollte Thomas überraschen. Immerhin war sie ja schuld daran, dass ihr Urlaub ins Wasser fiel. Als die letzte Kartoffel im Topf lag, rief sie Thomas auf dem Handy an. Er war bereits unterwegs. Er würde in einer halben Stunde da sein.
»Du hast gekocht?«, fragte er, als er ins Esszimmer trat. »Das finde ich ja lieb von dir.« Er sah den mit einer weißen Tischdecke bedeckten Tisch. Liebevoll hatte Wiebke ein paar Blumenblüten verteilt. Der Weißwein war bereits eingeschenkt. Sie hatte Cordon bleu gebraten, was ihr wider Erwarten ganz gut gelungen war. Dazu gab es Erbsen und Möhren aus der Dose. Nichts wirklich Aufregendes also, aber kochen hatte sie weder gelernt, noch besaß sie ein Talent dafür.
»Ich muss mich noch mal bei dir entschuldigen«, begann sie ohne Umschweife. »Nun bin ich es, die wegen ihres Scheiß-Jobs unser Leben durcheinanderbringt. Ich hoffe, du reagierst gelassener als ich.«
Thomas lächelte. »Mein Schatz«, sagte er. »Dein Chef hat mich angerufen und die Sachlage geschildert. Wenn einer Verständnis dafür hat, dass es berufliche Zwänge gibt, dann doch wohl ich.«
»Ich danke dir.«
Sie nahm ihr Glas. Sie stießen an. Er probierte das Fleisch.
»Es schmeckt ganz ausgezeichnet. Ich wusste nicht, dass an dir eine Köchin verloren gegangen ist«, sagte er charmant.
»Ich kann auch nicht kochen. Aber das hier kriege ich mit viel Mühe hin.« Sie kaute nachdenklich. Dann platzte es aus ihr heraus: »Eigentlich ist ja Wolfgang schuld, dass wir nicht in die Flitterwochen können.«
Thomas schaute überrascht. »Warum?«
»Du weißt so gut wie ich, dass er seit einem Jahr arbeitsunfähig ist. Ich mache seinen Job mit. Wenn er normal arbeiten würde, wäre mein Urlaub gar kein Thema. Wie kommst du mit der Therapie denn voran?«
»Wiebke!« Thomas hatte seinen strengen, sachlichen Gesichtsausdruck. »Das gehört zur ärztlichen Schweigepflicht. Ich darf dir nichts dazu sagen.«
»Thomas«, flehte sie ihn an. »Bitte!«
»Also gut, so viel: Ich bin noch nicht zum Kern vorgedrungen. Mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.«
Wiebke gab auf. Es war zwecklos, mit Thomas über seine Patienten zu sprechen. Seine Schweigepflicht nahm er ernst. So ernst, dass sie nicht einmal seinen Computer, an dem er zu Hause auch Patientenakten bearbeitete und Berichte tippte, benutzen durfte. Als ihr eigener Laptop einmal seinen Geist aufgegeben hatte, Thomas mal wieder mit Daniel auf der Ostsee herumschipperte und sie dringend einen Bericht schreiben wollte, hatte sie den Rechner hochgefahren. Doch er war durch ein Passwort geschützt. Keine Chance.
Wiebkes Bitte hatte aber doch etwas bewirkt. Thomas ging nachdenklich ins Bett. Daniel hatte ihm schon vor Wochen gesagt, er solle die Wahrheit aus Wolfgang herauslocken. Erst dann hätte sein Patient eine Chance, das Erlebte zu verarbeiten und wieder zu einem normalen Menschen zu werden. Erst dann wäre er wieder ein Polizist, der diese Bezeichnung auch verdienen würde. Also würde er es tun. Morgen, bei ihrer nächsten Sitzung.
Es war nicht legal. Aber er war es beiden schuldig. Wiebke, weil sie seine Frau war, und auch Wolfgang, weil er ein Freund war.
Das Telefon läutete, und Thomas unterhielt sich lange mit seinem Bruder. Am Ende dieses Gespräches war er mehr denn je davon überzeugt, das Richtige zu tun.
***
»Wolfgang«, sagte Thomas. »Wir sind jetzt seit vielen Monaten dabei, dich wiederherzustellen. Als Arzt, aber auch als Freund sage ich dir, dass ich nicht zufrieden bin.«
»Meinst du ich?«, sagte Wolfgang. »Ich saufe. Ich weiß. Ich kann kaum noch arbeiten und bin für Wiebke eine Belastung. Das weiß ich auch. Aber ich kann nicht anders.«
»Ich denke, dass du mal alles loswerden solltest.«
Wolfgang setzte sich mit einem Ruck auf. Er saß auf der Behandlungsliege des ambulanten Teils der psychiatrischen Klinik.
»Was meinst du damit?«
»Ich denke, dass tief in dir Belastungen stecken, die du nicht verarbeitest. Solange du das unterdrückst, kommen wir keinen Schritt weiter.«
»Ich habe nichts zu sagen!«
»Natürlich nicht.« Thomas gab sich
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