Kalte Fluten
von Wiebke, die er auf die Eins programmiert hatte. »Hallo, mein Schatz«, sagte er und lächelte glücklich.
»Hallo, Thomas.«
Sie nannte ihn nicht »Schatz«. Sie nannte ihn Thomas. Kosenamen hatte sie Männern bisher nur im Bett gegeben. Und dann waren es solche, deren öffentliche Verwendung sich von Natur aus verbot. Thomas redete beim Sex aber nicht. Deshalb schwieg auch sie lieber.
Wiebke kam ohne Umschweife auf den Grund ihres Anrufs zu sprechen. »Wir müssen uns um Wolfgang kümmern. Günter lädt ihn und uns morgen Abend zu sich ein. Wir müssen ihm helfen.«
»Klar«, sagte Thomas. »Nur –«
»Ich weiß. Um elf sind wir zu Hause, mein disziplinierter Doktor. Schließlich will ich ja auch noch was von dir haben«, sagte sie.
Sie schliefen nur am Wochenende miteinander. Und auch nur im Bett, im Dunkeln. Und ausschließlich in der Missionarsstellung. Aber sie hatte einen Mann aus Fleisch und Blut. Endlich. Also jetzt nicht undankbar sein. Wenigstens war da einer, der sie wärmte. Einer, mit dem sie Sex haben konnte. Wenn auch langweiligen.
»Ja, ja«, sagte Thomas schnell. Sex war ihm nicht wichtig. Er fand ihn sogar schmutzig. Schmutz war widerwärtig. Deshalb lag am Samstag auch immer ein weißes Badehandtuch auf seiner Matratze. Das konnte er steril kochen.
»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte Wiebke ohne große Hoffnung.
»Nein«, sagte Thomas. »Ich habe gleich eine Fortbildung. Die dauert bis neun, vielleicht halb zehn. Dann bin ich um frühestens halb elf zu Hause. Und –«
»Um elf ist Schlafenszeit. Ich weiß.«
Warum gab es entweder nur Männer, die zwar dumm im Kopf und im Grunde frauenverachtende Machos waren, dafür aber eine Granate im Bett, oder solche, mit denen man über alles reden konnte, die zuverlässig und diszipliniert waren, aber im Bett eine Flasche? Warum? Warum nur?
Wiebke!
Ja, ich habe ihn endlich, Mama. Aber ich darf auch mal wütend sein.
Aber nur kurz.
***
Sie hatte Zeit. Ihr Dienst begann erst wieder um neunzehn Uhr. Lydia schlenderte am Voorburgwal entlang durch die wunderschöne Altstadt Amsterdams. Der Voorburgwal war eine der vielen Grachten dieser prächtigen, auf Holzpfählen errichteten, einzigartigen Stadt. Das Wetter meinte es gut mit ihr an diesem Freitag Anfang März. Bereits wärmende Sonnenstrahlen illuminierten sanft und wohlmeinend das Treiben auf den Straßen.
Selbst das kleinste Giebelhaus stand auf Hunderten von Fichtenstämmen, die, in den Morast getrieben, verhinderten, dass diese Siedlung einfach versank. Ähnlich wie Venedig würde Amsterdam aber trotzdem eines Tages schlicht vergehen. Die Frage war nicht, ob. Die Frage war, wann.
Es war unmöglich, zu Amsterdam keine Meinung zu haben. Die Stadt polarisierte. Die strenge Geometrie der Stadtarchitektur stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem gelebten Chaos.
»Moet kunnen.« – Es muss möglich sein.
Wer stattdessen nach den Maximen »Das tut man« oder »Das tut man nicht« lebte, hatte in Amsterdam nur eine Chance: sofort flüchten aus diesem Pfuhl, der nur eine Regel kannte. Dass es nämlich keine Regeln gibt. Alle übrigen genossen es, dort zu sein, wo es möglich schien, alles tun zu können, was möglich war.
»Moet kunnen.«
Wer hier lebte, war sich seiner eigenen Vergänglichkeit bewusst. Er lebte. Wissend, dass das eigene Leben auf Pfählen im Morast der Zeit aufgebaut war. Dass diese Pfähle langsam versanken und die Bedeutungslosigkeit die darauf aufgebaute Existenz wieder verschlang. Die Frage war nicht, ob. Die Frage war nur, wann.
Wie bei Lydia.
Sie schlenderte zunächst ziellos umher. Schließlich hatte sie dann doch ein Ziel. Sie ging die Rosengracht entlang, lenkte ihre Schritte links in die Nassaukade. Nach ein paar hundert Metern lag rechts die Overtoom.
Wohlgemerkt: Sie ging. Langsam. Den letzten Rest von Hektik, Rennen und Hetzen hatte sie sich in den letzten Wochen, seit sie hier Geschäftsführerin des »Naked Boobies« war, abgewöhnt. Warum rennen, wenn die Pfähle jeden Tag ein bisschen mehr im Morast versanken?
In der Overtoom lag das »Tuintje«, einer der niederländischen Coffeeshops. Ein schöner Name für einen Laden, in den man am allerwenigsten wegen des Kaffees ging.
Lydia orderte die für einen Joint notwendige Menge und ein Bier. Zwar waren nach dem UNO-Einheitsabkommen der Handel und der Besitz von Marihuana und Haschisch nach wie vor illegal. Und eigentlich war der Alkoholausschank in Coffeeshops verboten. Doch das Motto
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