Kalte Fluten
gut aus, bist charmant. Du hast einen knackigen Körper.« Sie ärgerte sich. Warum erwähnte sie seinen Körper? Das musste jetzt doch wirklich nicht sein.
»Danke für die Blumen«, sagte er. »Aber ich glaube nicht, dass ich mit einer Frau auf Dauer zusammen sein könnte.«
»Warum nicht?«, fragte sie unschuldig.
In Günter baute sich mit einem Mal ein wahnsinniger Druck auf. Der Druck, endlich mit jemandem sprechen zu wollen, sich zu offenbaren, zu beichten. Und wer wäre dazu geeigneter als eine Freundin? Eine, der er vertrauen konnte. Eine, die eben »nur« eine Freundin war.
Er gab sich einen Ruck.
»Kann ich dir etwas sagen, was du nicht einmal Thomas erzählen darfst?«
»Du machst es aber spannend. Aber: großes Indianerehrenwort. Zu niemandem einen Mucks.«
»Ich denke nicht, dass ich mit meiner Sexualität mit einer normalen Frau klarkäme.«
Wiebke schaute betroffen. »Du bist schwul?«
Günter wurde beinahe ärgerlich. »Unsinn«, sagte er. »Ganz im Gegenteil.«
»Was heißt das? ›Ganz im Gegenteil‹?«
Nun beichtete Günter. Er erzählte von seiner polygamen Veranlagung. Von seinen Orgien im »Ceasar’s Palace«.
Wiebke reagierte. Sehr heftig. Aber nicht sichtbar. Günters detaillierte, schonungslose Beichte berührte sie. Sie war froh, einen Büstenhalter zu tragen. Ihre Brustwarzen wurden bretthart, ihr Slip klatschnass.
»Und? Geschockt?«, fragte Günter.
»Nein«, sagte Wiebke. »Nur für mich wäre das nichts.«
Warum sagte sie das? Warum? Sie würde ab jetzt keinen Sex mehr haben, ohne in ihrer Phantasie das ablaufen zu lassen, was er ihr gerade berichtet hatte. Warum log sie Günter an? Wohl deswegen, weil sie ihn ansonsten sofort genommen hätte. Hier und jetzt. In dieser Kneipe. Vor den ganzen Besoffenen.
Das hast du gut gemacht, Wiebke.
Mama, manchmal kotzt du mich an.
Wiebke!
Entschuldigung.
»Siehst du«, sagte Günter. »So wie du denken die meisten. Und jetzt stell dir vor, ich lerne jemanden kennen. Dann kommt diese Nummer raus. Das Chaos ist doch vorhersehbar. Nein danke. Da bleibe ich doch lieber Single.«
»Ich danke dir.«
»Wofür, Wiebke?«
»Für dein Vertrauen. Du kannst sicher sein, dass dein Geheimnis bei mir sicher aufgehoben ist. Das gilt für alles, was dich bedrückt.«
»Und umgekehrt.«
Günter brachte Wiebke gegen zwei Uhr nach Hause. Sie gab ihm zwei Küsse auf die Wangen. Das erste Mal.
»Schlaf gut«, sagte sie.
»Du auch«, antwortete er und ging schweren Schrittes nach Hause. Beide konnten heute Nacht so bald nicht einschlafen.
***
Er hatte gewartet, bis Hansen seine Wohnung verlassen hatte. Wie jede Nacht fuhr dieser der Reihe nach seine Etablissements ab.
Mit einem Dietrich öffnete er die Tür zu der Altbauwohnung und platzierte mit einem Haftklebestreifen einen Minisender mit geringer Reichweite unter einer Schublade des im Wohnzimmer stehenden antiken Sekretärs. Wenn überhaupt, würde man diesen Sender erst nach Monaten finden.
Dann schlich er auf den Dachboden. Dort versteckte er zwischen seit Jahren nicht mehr bewegtem Gerümpel den kofferradiogroßen Verstärker, der die Gespräche aus Hansens Wohnung empfangen, verschlüsseln und abstrahlen würde. In einem Umkreis von zehn Kilometern konnte er mit einem entsprechenden Gegengerät das Signal empfangen und wieder entschlüsseln.
Ein ebensolches Gerät hatte er vor einer Stunde in Christof Lüerßens Wohnung platziert.
Ich werde ihn kriegen, diesen gewissenlosen Parasiten, dachte er zufrieden, als er wieder in die Wohnung schlich, aus der er sich heimlich fortgestohlen hatte. Niemand hatte etwas gemerkt.
5
Lydia war eine knappe Woche tot.
Es war, als ob selbst der Himmel über dem Dorffriedhof der beschaulichen Gemeinde Tegernsee an diesem Freitagmorgen weinen würde. Dicke, bittere Tränen tropften unablässig vom traurig grau verhangenen Himmel.
Die kleine Trauergemeinde stand um das offene Grab, in dem vor ein paar Jahren Lydias Großmutter beerdigt worden war. In dem irgendwann einmal Caroline ihre letzte Ruhe finden sollte. Und auch Lydia. In vielen, vielen Jahrzehnten. Aber doch nicht jetzt schon.
Angestrengt verkrochen sich die Menschen unter ihren Schirmen. Sie hörten die Worte des Pfarrers. Doch selbst den hartgesottenen Katholiken unter ihnen fiel es heute schwer, an Gottes unergründliche Wege zu glauben und daran, dass sie dennoch ihren tieferen Sinn hatten.
Welchen Sinn hatte der Tod einer gerade dreißig Jahre alten Frau? Wohin führte
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