Kalte Fluten
war. Bis das Ausbleiben der EU-Beihilfen irgendwann endgültig das Aus für die Werft bedeutet hatte.
Wenn man in der Fertigungshalle ganz leise war und sich konzentrierte, konnte man es noch hören. Das Fluchen des Vorarbeiters.
Wenn man sich konzentrierte und ganz genau hinsah, konnte man dazu den hellen Schein der vielen Halogenschweißgeräte wahrnehmen, mit denen Stahl an Stahl gefügt wurde.
Und wenn man dann noch die Augen schloss und tief durch die Nase atmete, konnte man den Männerschweiß riechen, aus dem Heldensagen und Industriekolosse gemacht werden.
Stand man nur lange genug in der verlassenen Halle und ließ das Gehörte, Gesehene und Gerochene auf sich wirken, überkam einen dieses einzigartige Gefühl. Noch heute war der Stolz der Belegschaft zu spüren, wenn nach vielen Wochen aus Stahlplatten und unzähligen Einzelteilen ein Schiff geworden war.
Weit weg, unwirklich, wie durch einen Nebel. Aber man konnte es riechen, hören, sehen und fühlen. Doch bald, schon in wenigen Jahren, würde auch dieses Areal abgerissen und durch moderne Bauten ersetzt sein.
Die eingeschlagenen Fenster waren zugemauert. Genauso wie die Tür. Damit nicht Stadtstreicher aus dem Betriebskrankenhaus des ehemaligen volkseigenen Betriebes eine Art volkseigene Behausung machten. Damit spielende Kinder, die sich, verbotenerweise zwar, aber nichtsdestoweniger unbeaufsichtigt, auf dem Gelände aufhielten, sich nicht verletzten.
Damit es leer blieb, bis eines Tages Dynamit und Abrissbirne auch dieses Relikt einer untergegangenen Epoche zu feinem Staub verarbeiteten. Damit etwas Neues entstehen konnte. Etwas Modernes und Fortschrittliches. Unwillkürlich würden sich auf dem maroden Gelände dann wie in einem Treppenwitz der Geschichte die ersten Worte der DDR-Nationalhymne bewahrheiten: »Auferstanden aus Ruinen«.
Doch noch war es nicht so weit. Noch konnte das Gelände als konspirativer Treffpunkt dienen. Außer Kindern, die ihren Mut unter Beweis stellen wollten, aber jetzt schliefen, und einigen Touristen, die sich jetzt aber eher in Bars und Diskotheken aufhielten, betrat niemand dieses Gelände. Jedenfalls niemand mit lauteren Absichten.
Es regnete. Er suchte Schutz unter dem Betonvordach, an dem immer noch das Schild »Betriebskrankenhaus« prangte. Etwas Neues entstand durch den Untergang von etwas anderem. Oder einem anderen. So war nun einmal der Lauf des Lebens.
Er meinte, eine Silhouette ganz hinten an der Halle ausmachen zu können. Einen huschenden Schatten. Von einer Katze? Oder einem streunenden Hund? Sein Herz schlug schneller. Die Gewissheit, gleich einen Menschen eigenhändig umzubringen, ließ ihn erstaunlicherweise nicht kalt. Er hatte Angst. Aber er musste es tun.
Er blickte wieder in die Richtung, wo er den Schatten vermutete. Eine Fledermaus, die im Tiefflug an ihm vorbeischwirrte, erschreckte ihn bis ins Mark. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er spürte seine Halsschlagader pochen.
Er drehte sich um und suchte mit angestrengten, zusammengekniffenen Augen den Horizont in der anderen Richtung ab. Er meinte, einen Pfiff zu hören, und spürte einen Stich am Hals. Wie von einer Wespe oder einer Hornisse. Dann wurde es Nacht um ihn.
Als er wieder erwachte, konnte er seine Beine nicht mehr spüren.
***
Belinda war bei Wiebke im Büro gewesen, um Fritjof Hansen als vermisst zu melden. Wiebke nahm ihr die Vorstellung von der sich sorgenden Freundin zwar nicht wirklich ab, versprach ihr aber trotzdem, sich um die Sache zu kümmern und ihr die Ergebnisse mitzuteilen. Sie schickte eine Streife zu Hansens Wohnung, und tatsächlich, Belindas Vermutung schien sich zu bestätigen: Die Wohnung wirkte verlassen. Die Milch im Kühlschrank war schlecht geworden, die Luft stand in den Räumen, der Briefkasten quoll fast über. Keine Spur von Hansen. Auch in seinen diversen Clubs hatte man ihn seit einigen Tagen nicht mehr gesehen.
Wiebke überlegte. Es gab keine Anzeichen für eine Gewalttat. Nirgends. Also war Hansen vielleicht untergetaucht, aus welchen Gründen auch immer.
Recherchen zum Verbleib von Hansens Kompagnon Christof Lüerßen verstärkten diesen Eindruck: Auch der Dealer war wie vom Erdboden verschluckt. Niemand hatte ihn mehr gesehen. Seine Wohnung war ebenso unbewohnt wie die von Hansen, nur waren daraus auch alle persönlichen Gegenstände und sämtliche Wertsachen verschwunden. Es sah aus, als habe er in großer Eile die Stadt verlassen.
Für Wiebke war die Sache damit eindeutig.
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