Kalte Fluten
Hansen und Lüerßen waren verschwunden, tot oder abgehauen, weil ihnen durch Lydias Tod der Boden zu heiß geworden war. Sie schrieb beide zur Fahndung aus, gab sich aber keinen allzu großen Illusionen hin. Sie hatte keinen Anhaltspunkt, wohin die beiden verschwunden sein könnten. Wenn sie erst einmal außer Landes waren, wäre die Chance auf einen Sechser im Lotto größer als die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer sie aufspürte und festnahm.
Sie rief Belinda an, die sich aber nicht mit einer telefonischen Information abspeisen lassen wollte. Keine halbe Stunde später war sie bei Wiebke im Präsidium.
»Christof hat ihn umgebracht«, sagte sie unter Tränen.
Die Nummer hast du inzwischen ganz gut drauf, dachte Wiebke. Laut fragte sie: »Wie kommen Sie darauf?« Wolfgang hörte interessiert zu.
»Weil sie sich gestritten haben.«
»Weswegen?«
»Das habe ich doch Ihrem Kollegen da schon gesagt«, maulte Belinda pampig. »Wegen mir.«
»Seien Sie mir nicht böse«, sagte Wiebke und musterte die Prostituierte mit dem unnachahmlichen weiblichen Blick, der ausdrücken sollte, dass ihr Gegenüber unter einem akuten Anfall von Selbstüberschätzung litt. »Aber das glaube ich nicht.«
»Was glauben Sie nicht?«
»Dass sich Fritjof Hansen wegen einer Frau prügelt und dann noch umbringen lässt. Und Ihr Christof wusste doch auch, womit Sie Ihr Geld verdienen und schon verdient haben, als Sie noch mit ihm zusammen waren. Mal ehrlich: Wenn er jeden ins Jenseits befördern würde, der mit Ihnen geschlafen hat, wäre er ziemlich beschäftigt.«
»Zicke!«
»Meinetwegen. Aber nehmen wir die Fakten, wie sie sind. Nachdem Lydia Franke tot und mit einem Kilo reinem Heroin im Gedärm aufgefunden worden war, lag der Verdacht nahe, dass sie für Ihren heiß geliebten Fritjof, dessen Freundin sie zu dem Zeitpunkt war, als Bodypackerin gearbeitet hat. Wir verdächtigen Herrn Hansen schon lange, der Kopf des Rostocker Heroinhandels zu sein. Wir setzten ihn und Christof Lüerßen also unter Druck. Jetzt, eine Woche später, sind beide verschwunden. Wissen Sie, was mir das sagt?«
»Sie werden es mir sicher gleich auftischen.«
»Wahrscheinlich fanden beide, dass es zu gefährlich ist, hierzubleiben und abzuwarten, bis wir ihnen doch noch etwas nachweisen können. Sie haben ihre Sachen zusammengerafft und sind – vielleicht sogar gemeinsam – Hals über Kopf verschwunden.«
»Wohin denn?«
»Was weiß ich? Über die Ostsee nach Polen zum Beispiel. Dort ist es kein großes Problem, sich mit ein paar Euros in der Tasche eine neue Existenz aufzubauen. Aber seien Sie beruhigt, wir haben nach beiden eine Interpol-Fahndung laufen.«
»Sie glauben also nicht, dass Christof den Fritjof gekillt hat?«
»Das habe ich nicht gesagt, und es wäre durchaus möglich. Es ist aber ebenso gut möglich, dass Fritjof Hansen Christof Lüerßen aus dem Weg geräumt hat und sich jetzt in der Südsee mit noch mehr sonnengebräunten Damen als gewöhnlich vergnügt.«
Wenn Wiebke nicht Polizistin gewesen wäre, hätte Belinda ihr wohl eine Ohrfeige verpasst.
»Er ist tot, das spüre ich.«
Wiebke nahm aus dem Augenwinkel Wolfgangs Gesichtsausdruck wahr. Beim Satz »Er ist tot« lächelte er zufrieden. Das machte sie nervös. »Ihr Gefühl in allen Ehren«, sagte sie, um Sachlichkeit bemüht. »Aber solange wir weder den einen noch den anderen tot auffinden, müssen wir davon ausgehen, dass sie untergetaucht sind.«
»Ich vermisse ihn«, sagte Belinda, und wieder kullerten die Tränen. Das muss ich üben, dachte Wiebke. Das ist sehr eindrucksvoll.
»Da gehören Sie aber zu einer kleinen Minderheit«, sagte Wolfgang kalt. »Auf Wiedersehen.«
»Ich werde mich über Sie beschweren«, fauchte Belinda entrüstet.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, konterte er gelassen.
Wütend verließ Belinda den Raum. Draußen lächelte sie. Sie hatte Christof gewarnt, hatte ihm gesagt, dass Fritjof plante, ihn umzubringen. Sie hatte ihn angefleht, zu verschwinden. Erst hatte Christof sich noch gesträubt. Hatte was von Russen und einer neuen Bezugsquelle erzählt. Doch dann hatte er ihr versprochen, ebenfalls unterzutauchen. Beide waren weg. Sie hatte ein Leben gerettet. Sie war zwar eine Nutte. Aber sie war keine Mörderin.
»Wolfgang?«, fragte Wiebke vorsichtig, als ein lauter Knall anzeigte, dass die Tür geschlossen und sie allein waren.
»Ja?«
»Warum hast du gelächelt, als sie sagte: ›Er ist tot‹?«
»Habe ich das?«
»Ja, das hast
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