Kalte Fluten
ein solch idiotischer Weg?
Das letzte Vaterunser. Eine Schaufel Erde auf den glänzenden Sarg. Der letzte Gruß. Ein leises Servus und die bange Frage, ob man sich, wie heute wieder einmal versprochen wurde, im Paradies wiedersehen würde.
Und die ständige, bohrende Frage nach dem Warum.
Warum? Warum nur?
Wolfgang hatte dafür gesorgt, dass Lydia nach Tegernsee überführt und hier in Bayern begraben werden konnte. Im Schatten der mächtigen Berge in der Nähe der erfrischenden Seen. Sie sollte dort begraben werden, wo sie einmal glücklich gewesen war. Für dreizehn kurze Jahre. Dort sollte sie auch ihren Frieden finden. Für eine Ewigkeit.
Caroline stand versteinert neben Wolfgang. Sie waren die Eltern. Heute gehörten sie noch einmal zusammen. Zum letzten Mal.
Die unvermeidliche Kondolenz war wie eine nicht enden wollende seelische Folter. Jeder gab ihnen die Hand und murmelte, wenn es gut lief, nur: »Mein Beileid.« Andere fühlten sich verpflichtet, mehr zu sagen.
»Wir können es gar nicht fassen.«
»Sie wird uns fehlen.«
Als würde das für die Eltern nicht hundertmal mehr gelten.
»Sie war ein so fröhliches Madel.«
Ja, das war sie. Der Sonnenschein ihrer Eltern, bis ihr auf seine Karriere versessener Vater meinte, die Familie sollte an die Ostsee umziehen.
Endlich war es vorüber. Etwas abseits standen Wiebke, Günter und Thomas, die beschlossen hatten, Wolfgang bei diesem schweren Gang zur Seite zu stehen. Langsam kroch ihnen die Nässe des Regens in die Kleidung. Sie froren. Sie sahen, wie sich Wolfgang seiner Frau zuwandte.
»Caroline, ich kriege ihn«, sagte er.
»Sei ruhig!«
»Nein, wirklich. Ich jage ihn und werde ihn zur Rechenschaft ziehen.«
»Du bist ein Dampfplauderer. Ein feiger Dampfplauderer«, schrie sie ihn unvermittelt an. All ihre Trauer verwandelte sich augenblicklich in blinde Wut. »Du hast sie auf dem Gewissen. Du und kein anderer! Wer hat denn weggehört, wenn sie abends im Bett leise geweint hat, weil man sie wieder ›Heidi‹ gehänselt hatte? Wer denn? Wem ging der Job über das Glück seiner Familie? Ja, zurück wolltest du wohl. Aber was ist denn aus deiner Versetzung geworden? Nix war’s gwesen! Die ahnen wohl, dass bei dir das Maul größer ist als alles andere. Tu mir einen Gefallen, geh mir aus den Augen. Und komm bitte nicht zum Leichenschmaus. I ertrag di nimmer.«
Weinend verließ Caroline ihn das zweite Mal. Diesmal war sie weniger zurückhaltend. Der Schmerz ließ sie die Wahrheit ungefiltert aussprechen. Wolfgang blickte ihr starr hinterher. Dann drehte er sich um, schaute in das offene Grab und fiel unvermittelt in dem feuchten Matsch auf die Knie. Der Dreck spritzte nur so. Weinkrämpfe schüttelten ihn.
Thomas löste sich von der Gruppe, ging zu Wolfgang und legte eine Hand auf seine Schultern. »Komm, Wolfgang, lass uns gehen«, sagte er in ruhigem Ton.
Wiebke und Günter fühlten sich unwohl. Sie waren zu beobachtender Untätigkeit verdammt.
»Lass mich«, brüllte Wolfgang.
Irgendwann ließ er sich dann doch dazu bewegen aufzustehen. Thomas stützte ihn und führte ihn zu seinem Auto, wo er ihm ein Beruhigungsmittel gab.
»Günter, kannst du fahren?«, fragte er.
»Sicher.« Günter setzte sich auf den Fahrersitz des Volvo. Thomas nahm neben Wolfgang im Fond Platz, Wiebke auf dem Beifahrersitz.
»Wir fahren nach Hause«, sagte Thomas.
»Nach Hause«, äffte Wolfgang ihn hysterisch nach. »Davon fahren wir gerade weg!« Dann begann endlich das Sedativum zu wirken, und Wolfgang schlief ein.
Sie sprachen die ganze Fahrt über kaum ein Wort.
***
Er wartete bang in dem verlassenen Industriekomplex.
Solche Gebiete haben eine eigenartige Faszination. Besonders in der Nacht. Es ist nicht so sehr die Architektur der Hallen und Gebäude, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Auch nicht die beeindruckende Größe der brachliegenden Areale oder ihre bisweilen bedrohlich wirkende Komplexität. Man hält vielmehr unwillkürlich inne, weil man spürt, dass sie existieren, um etwas Großes und Bedeutendes entstehen zu lassen.
Schon 1846 baute man an dieser Stelle Schiffe. Bis 1945 war die Neptun Werft eine der Waffenschmieden der Nationalsozialisten. Auch zu DDR-Zeiten wurden in den großen Hallen neuzeitliche Varianten eines der ältesten Fortbewegungsmittel des Menschen überhaupt zusammengeschweißt, -geschraubt und -gedengelt. Achtlos noch in den Hallen herumliegende Werkzeuge bezeugten, dass hier einmal richtig gearbeitet worden
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