Kalte Fluten
du. Komm, ich kenne dich. Willst du mir etwas sagen?«
»Du glaubst doch nicht, dass ich …« Wolfgang wirkte fassungslos.
»Du hast mich gelehrt, nicht zu glauben, sondern aufgrund von Fakten zu urteilen. Ohne jedes Ansehen der Person«, erklärte Wiebke.
»Das habe ich, das stimmt.«
»Also lass mich den Gedanken zu Ende führen: Unterstellen wir mal, dass Fritjof Hansen tot ist. Das naheliegende Motiv, das du – zugegebenermaßen im Affekt – Fritjof Hansen und unvorsichtigerweise auch noch Dr. Laufmann gegenüber eingeräumt hast, ist eines der ältesten der Menschheit. Rache.«
Wolfgang ließ sich auf das Spiel ein. Wiebke war erleichtert.
»Gut, Wiebke. Aber was ist mit Lüerßen?«
»Der wäre in dem Szenario wohl auch tot.«
»Also ein Doppelmord. Wiebke, jetzt mal ehrlich: Traust du mir das zu?«
Feiger Dampfplauderer, hörte Wiebke Caroline sagen. Sie sah Wolfgang wieder im Dreck vor dem Sarg knien und erinnerte sich, wie er ihr, noch völlig benebelt vom Alkohol, die Tür geöffnet hatte, nachdem nach Lydia auch noch Caroline gegangen war. Sie ging auf ihn zu, nahm ihn in den Arm und sagte leise: »Entschuldigung. Aber das hast du aus mir gemacht. Eine Polizistin durch und durch. Es tut mir leid.«
»Schon gut, Wiebke«, sagte er und erwiderte ihre Umarmung.
Die beiden Männer blieben verschwunden. Sie wurden aber auch nicht wirklich vermisst oder richtig gesucht. Nicht einmal von Wolfgang, worüber sich Wiebke zunächst noch wunderte. Sie fragte sich einige Male, warum er nach den beiden nicht wie verrückt fahndete. Er hatte doch deutlich genug gesagt, dass er die Verantwortlichen für Lydias Tod zur Rechenschaft ziehen wollte. Aber er tat nichts. Manchmal litt sie darunter, dass sie Wolfgang deswegen immer noch ein bisschen verdächtigte. Wobei sie genau wusste, dass sie als Polizistin entweder jemanden verdächtigen konnte oder nicht. Ein bisschen Verdacht gibt es nun einmal nicht. Vielleicht war er ja auch einfach nur genauso realistisch wie sie, was die Erfolgschancen anging?
Schließlich erschien ihr der Gedanke, dass Wolfgang Selbstjustiz verübt haben könnte, so abstrus und bizarr, dass sie ihre schlimme Vermutung einfach verdrängte. Nach ein paar Monaten kamen die Vermisstenakten ins Archiv und staubten vor sich hin.
Das Leben nahm wieder einen normalen Gang.
Zweiter Teil
1
Ihre Proteste waren sinnlos. Ihr Kampf war verloren. Doch sie wollten nicht einfach aufgeben. Mit Transparenten, Trillerpfeifen und Menschenketten versuchten sie, die Bagger aufzuhalten. Hunderte aufgebrachte Bürger hatten sich an diesem Montag in aller Herrgottsfrühe versammelt, um das scheinbar Unvermeidliche doch noch zu verhindern.
Das Unglück hatte vor Jahren begonnen. Der Brooksee im Süden von Rostock war eine landschaftliche Schönheit. Der See selbst war ein Phänomen. Es gab ihn zunächst bis ins 18. Jahrhundert hinein. Danach verschwand er aus den Karten, was an den Bemühungen zur Gewinnung von Ackerland lag.
Seit 1950 wurden die Flächen nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, und der See eroberte sich die Geländesenke zurück. So erfolgreich sogar, dass die Uferzone bedrohlich nah an den kleinen, beschaulichen Ort Brookhusen herankam. Ein Abfluss verhinderte 1981 die Überflutung.
Um den See zog sich ein zehn bis fünfzehn Meter breiter Röhrichtsaum. Es gab Brutkolonien von Lachmöwen und Flussseeschwalben. Naturkundler und Ornithologen erfreuten sich an Zwergtauchern, Graugänsen, Kiebitzen und anderen Vögeln. Im See selbst lebten, vom Menschen unbehelligt, Gras-, Moor-, Wasser- und Laubfrösche.
Noch. Das Ende dieses Biotops war seit Kurzem beschlossene Sache.
Die malerische Lage war auch geschäftstüchtigen Bauunternehmen nicht entgangen. Sie hatten Geld. Sie hatten einen langen Atem. Sie kauften das ökologische Kleinod zu einem Schnäppchenpreis. Ihre Geduld sollte sich jetzt ökonomisch auszahlen. Aus dem ehemaligen Naturschutzgebiet war Bauland geworden. Grundstücke mit eigenem Seezugang würden bald mit schmucken Villen bebaut. Im Süden sollte eine Mehrfamilienanlage entstehen. Eine große Baumaßnahme, die sich über Jahre hinstrecken würde und heute ihren Anfang nehmen sollte. Ein kleines Wäldchen im Westen des Sees stand der Zubringerstraße, die das Neubaugebiet mit der L 13 mit dem schönen Namen »Am Dorfteich« verbinden sollte, im Wege.
»Beton ist kein Argument!«
»Keine Macht den Baulöwen!«
»Rettet die Natur!«
Alles das stand auf den
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