Kalte Fluten
er sich 1982 falsch entschieden, die Zeichen nicht rechtzeitig erkannt und trotz allem weitergemacht hatte. Die Panik, in den falschen Zug eingestiegen zu sein und nun mit hoher Geschwindigkeit ins Verderben zu rasen, nahm ihm regelrecht die Luft zum Atmen.
Mit Grauen malte er sich aus, als Taxifahrer einem gut gekleideten Anwalt, der sich kommunikativ nach dem Lebensweg des Fahrers erkundigte, erklären zu müssen, dass man auch mal Jura studiert hätte, aber leider …
… leider war man zu doof gewesen?
… leider hatte man dem Druck nicht standgehalten?
Nein: Leider war man ein Versager!
Er hatte verzweifelt in der Küche der WG gesessen und die nächste Flasche billigen Weins geöffnet. Mit Schraubverschluss.
Der Geschmack billiger Weine verhält sich umgekehrt proportional zum aktuellen Finanzstatus. Hat man kein Geld, hat selbst der billigste Fusel ein fruchtiges Aroma, eine erfrischende Restsüße und einen langen Abgang. Unmittelbar nach Verbesserung der finanziellen Lage wird derselbe Wein zum ungenießbaren Verschnitt mit einem klebrigen Geschmack nach billiger Limonade und einem an Rapsöl erinnernden Rülpser nach dem unweigerlich durch diesen Rachenputzer hervorgerufenen Aufstoßen.
Doch die zweifelhafte Qualität des Weins war Günters geringstes Problem. Er war allein in der WG. Es war Wochenende. Michael, der angehende BWLer, war zu seiner Freundin nach Bamberg gefahren. Sebastian war bei seinen Eltern. Wo Johannes war, wusste er nicht. Es war ihm auch egal.
Johannes war seit einem Jahr in der WG. Er hatte dringend eine Bleibe für das eine Jahr gesucht, in dem er noch Referendar war. Leider hatte ihn seine Verlobte Sibille aus der ihr gehörenden Wohnung geworfen, nachdem Johannes in geschmackloser Weise ihre beste Freundin auf dem gemeinsamen Sofa verführt hatte und von Sibille in flagranti dabei ertappt worden war.
Johannes Kleinert war ein charakterlich eher zweifelhafter Mensch, aber ein juristisches Genie. Er hatte das, wofür es kein Indiz im Abiturzeugnis gibt: das Talent für Jura, das Gespür für das richtige Ergebnis, das »Judiz«, wie man so sagte.
Die Tür zur Küche öffnete sich, und auf einmal war er da.
»Guten Abend, Günter«, sagte er, während er ein Glas aus dem Küchenschrank holte, sich ungefragt von Günters Wein einschenkte und diesem zuprostete. Aus dumpfen Augen blickte ihn Günter an.
»Was ist los, ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte Johannes. »Komm, lass uns eine Tour durch die Altstadt machen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«
Günter schüttelte nur den Kopf.
Ganz gegen seine Gewohnheit fragte Johannes nach dem Grund der schlechten Stimmung. Und ganz gegen das Gefühl, diesem vorlauten Menschen nicht vertrauen zu können, antwortete Günter. Er schüttete ihm förmlich sein Herz aus.
»Wenn es weiter nichts ist«, erwiderte Johannes schließlich lächelnd. »Das lässt sich regeln.«
Günter merkte auf. »Wie meinst du das? Das lässt sich regeln? Ich zittere beim Gedanken an Klausuren. Ich habe Angst. Ich kriege Schweißausbrüche. Wenn ich in einer Prüfung sitze, bin ich noch nicht einmal mehr in der Lage, ›Strafgesetzbuch‹ unfallfrei zu schreiben.«
»Du« , sagte Johannes mit einer überdeutlichen Betonung, »schreibst aber nie wieder eine Klausur.«
»Den Eindruck habe ich auch«, bemerkte Günter bissig.
»Nun stell dich mal nicht blöder an, als du bist.«
Günter sah Johannes prüfend an. Es war kein Zynismus in seiner Miene zu erkennen, nur Selbstvertrauen und Verschlagenheit. »Du meinst, du willst …« Er traute sich kaum, das Undenkbare auszusprechen. »Du willst an meiner Stelle hingehen?«
Johannes schenkte sich Wein nach. Er grinste.
»Vergiss es«, sagte Günter. »Bei den Klausuren werden Personalausweiskontrollen gemacht.«
»Na und?«, fragte Johannes.
»Wie, na und?«
»Überleg doch mal. Die prüfen, ob der Name des Ausweises mit dem Namen in ihrer Liste übereinstimmt, und vergleichen das Konterfei des Kandidaten mit dem Bild auf dem Ausweis. Dann kommt das Häkchen. Wir brauchen also nur einen Ausweis mit deinen Daten und meinem Bild.«
»Nein, das mache ich nicht«, wehrte sich Günter schwach. »Das ist Urkundenfälschung und was weiß ich noch alles.«
»Zehntausend für mich, zweitausend für den falschen Pass. Wenig angesichts der Alternative, dass du ansonsten dein Leben lang in dieser WG leben musst.«
»Ich habe keine zwölftausend Mark.«
»Besorg sie dir irgendwie. Das
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